News19. August 2019 Locarno Critics Academy
Locarno Film Festival: Ein Rückblick auf die 72. Ausgabe
Das diesjährige Locarno Film Festival fand am vergangenen Samstag sein Ende. Vier Mitglieder der Schweizer Sektion der Locarno Critics Academy werfen einen Blick auf die Highlights der beliebten Veranstaltung, die unterschiedlichen Sektionen und die PreisträgerInnen.
Der vorliegende Text entstand im Rahmen der Locarno Critics Academy, AutorInnen sind die vier Mitglieder der Schweizer Sektion: Laurine Chiarini, Dario Pollice, Anna Raymann und Julia Schmidt
Das portugiesische Werk «Vitalina Varela» überzeugt auf ganzer Linie
Der internationale Wettbewerb der 72. Ausgabe des Locarno Film Festivals bleibt auch unter der neuen künstlerischen Leitung von Lili Hinstin seiner Linie treu. Die 17 Beiträge zeigten ein Kino, das sich Zeit nimmt, das Geschichten bedächtig und nicht selten hoch formal erzählt. Im Mittelpunkt standen Aussenseiter, die sich durch Provinzen, Slums und Suburbia bewegen. Ihr Blick ist dabei schwermütig, gelegentlich zuversichtlich, selten ausgelassen. Wie in Öl gemalt erscheint der diesjährige Gewinner des Goldenen Leoparden: Die Jury unter Leitung der französischen Filmemacherin und Schriftstellerin Catherine Breillat prämierte den portugiesischen Film «Vitalina Varela» von Pedro Costa.
In klaustrophobischer Dunkelheit erzählt dieser die Geschichte einer kapverdischen Frau, die jahrelang auf ihr Flugticket nach Portugal wartet, um schliesslich drei Tage nach der Beerdigung ihres Mannes anzukommen. Von da an bemüht sie sich in aller Hoffnungslosigkeit des Armenviertels, das Haus ihres Mannes wieder aufzubauen. Vitalina Varela (sie trägt denselben Namen wie die Protagonistin) erhielt überdies die Auszeichnung als beste Darstellerin. Als bester Schauspieler wurde Regis Myrupu für seinen hypnotischen Auftritt im Debütfilm «A Febre» ausgezeichnet. Mit einem Spezialpreis ehrte die Jury den südkoreanischen Thriller «Pa-go» von Park Jung-bum. Der Preis für die beste Regie ging an Damien Manivel für «Les Enfants d’Isadora». Zudem vergab die Jury zwei Anerkennungen an «Hiruk-Pikuk si Al-Kisah» von Yosep Anggi Noen und «Maternal» von Maura Delpero.
Mut zum Risiko zahlte sich aus
Entspricht der internationale Wettbewerb ein bisschen dem weltfremden Filmnerd mit Hornbrille, ist die Piazza Grande mehr die elegante Diva im Abendkleid. Diesen Spagat zwischen Cinephilie und Glamour bzw. Publikumsfilm zu meistern, war bekanntlich nicht die Lieblingsdisziplin des vormaligen Direktors. Daher war man gespannt, ob sich die neue Leiterin Lili Hinstin besser mit den Besonderheiten der Piazza-Programmierung anfreunden würde. Der berührende Eröffnungsfilm «Magari» von Ginevra Elkann setzte ein erstes positives Zeichen. «7500» bot spannungsvolle Unterhaltung und mit Joseph Gordon-Levitt, einen charmanten Hollywood-Star. Quentin Tarantino meldete sich via Grussbotschaft von der Leinwand und füllte mit «Once Upon a Time… in Hollywood» die Piazza bis an den Rand. Von solchen Momenten lebt das Festival.
Frischen Wind brachte die schmissige Schweizer Komödie «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei» aus der Feder von Natascha Beller. Mit «Instinct», einem Drama über eine Therapeutin und einen Vergewaltiger, bewies Hinstin Mut zum Risiko. Zu Recht: der Film von Halina Reijn erhielt den Variety Piazza Grande Award. Das französische Drama «Camille» über eine Fotojournalistin im zentralafrikanischen Bürgerkrieg sollte wohl eine ähnlich mutige Wahl sein, allerdings warfen die unreflektierte europäische Sicht auf den Bürgerkrieg und die Nähe zur Hauptfigur Fragezeichen über die Selektion dieses Filmes auf. Die Zuschauer schien das nicht zu stören, «Camille» erhielt den Prix du Public UBS.
Vielfalt wurde gefeiert
Die Sektion Pardi di Domani, wurde ihrem Ruf, Schmelztiegel des Festivals zu sein, in mehr als einer Hinsicht gerecht. Die von Charlotte Corchète, Tizian Büchi, Liz Harkmann und Stefan Ivančić zusammengestellte Auswahl aus kurzen und mittellangen studentischen Produktionen erwies sich als Feier der Vielfalt. Zum ersten Mal überhaupt wurde der internationale und nationale Wettbewerb für die Screenings gemischt: Die sorgfältig kuratierten Filmreihen liessen den einzelnen Werken – Spiel-, Dokumentar-, Essay- und Animationsfilme – den ihnen gebührenden Raum und verwiesen doch immer wieder auf gemeinsame inhaltliche Schwerpunkte. Familienbanden und deren Brüchigkeit, Fragen der Zugehörigkeit und der Entwurzelung wurden im diesjährigen Programm in diversen Genres, Erzähl- und Ausdrucksformen immer wieder aufs Neue verhandelt.
Die Jury – Bl Gan, Alice Diop und Mike Plante – verlieh im internationalen Wettbewerb den goldenen Pardino an Arda Ciltepes «Siyah Güneş», eine auf stimmungsvolle Tableaus reduzierte Erzählung über Vaterverlust. Im nationalen Wettbewerb ging diese Auszeichnung an Dejan Baraks dokumentarisches Porträt einer entwurzelten Mutter in «Mama Rosa». Die silbernen Pardinos gewannen «Umbilical» der US-Amerikanerin Danski Tang, ein Animationsfilm über die Auswirkungen missbräuchlicher Elternbeziehungen, und der von schmerzhaften Lebenserfahrungen verschiedener Frauen zeugende Essayfilm «Tempête Silencieuse» der Schweizerin Anaïs Moog.
Eine Plattform für das internationale schwarze Kino
"Black Light" versteht sich als Retrospektive des internationalen schwarzen Kinos. Wie soll ein Bild dieses Kinos durch 47 ausgewählte Filme vermittelt werden? Greg de Cuir Jr, Kurator der Retrospektive, hat den Kontinent Afrika ausgeschlossen, da die Erfahrung, schwarz zu sein, eine ganz andere Bedeutung hat und da dies eine eigene Retrospektive verdienen würde. In jedem Fall wollte er nicht Antworten geben, sondern Fragen in den Raum stellen. 30 der 47 Filme kamen aus den USA, was wiederum auf die vergleichsweise sehr kleine Produktion schwarzer Filme ausserhalb der USA und Afrika verweist.
Die meisten, auch das eine bewusste Wahl, befassten sich mit sozialen und politischen Themen. Als "schwarz" soll, mit Blick auf de Cuirs Auswahl, ein Film nicht vor allem deshalb gelten, weil darin schwarze Menschen spielen, eher weil ihre Form oder ihr Zugang einer schwarzen Erfahrung entspricht. Einige Filme gehörten zu den Filmen in diesem Feld, um die man nicht herumkommt, so «Losing Ground», der erste von einer schwarzen Frau realisierte Film, oder «Sweet Sweetback's Baadasssss Song», der mit seiner radikalen Erzählform als Vorläufer eines neuen schwarzen amerikanischen Kinos gilt.
Weitere Informationen zum Locarno Film Festival gibt es hier.
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