Critique15. November 2018 Irina Blum
Netflix-Kritik: Der Wilde Westen à la Gebrüder Coen in «The Ballad of Buster Scruggs»
Ursprünglich als Serie angedacht, veröffentlichen die Coen-Brüder («No Country for Old Men«) ihren über 2-stündigen Western namens «The Ballad of Buster Scruggs» nun auf Netflix als 6-teiligen Episodenfilm, der eine Art visuell umhauendes Genre-Speed-Dating mit sehr ungleichen Kandidaten ist.
Eine Anthologie über den Wilden Westen sollte es werden, das neueste Projekt der Coen-Brüder: Die 6 voneinander unabhängigen Geschichts-Häppchen, die dem Zuschauer in «The Ballad of Buster Scruggs» vorgesetzt werden, kommen dann auch mit viel Whiskey, Unmengen an Waffen und wenig Zivilisation daher. Der Wilde Westen ist aber auch schon der einzige gemeinsame Nenner in den 6 rund 20 bis 30-minütigen Episoden, die allesamt per Seitenumblättern in einem Buch und dem ersten Satz des Kapitels ebenjenes Buches beginnen: Formal gleich eingeläutet, unterscheiden sich die Folgen inhaltlich und tonal jedoch ziemlich.
Den Auftakt macht die titelgebende Episode, in der Tim Blake Nelson einen weiss gekleideten, singenden Cowboy spielt, der auch durch seinen Steckbrief nicht wirklich angsteinflössender zu wirken vermag. Zusammen mit der darauffolgenden Episode – James Franco redet sich als verkappter Bankräuber wortwörtlich um Kopf und Kragen – ist dieser Teil des Westerns mit dem für die Coen-Brüder so typischen schwarzen Humor und makabren Wendungen gespickt.
Doch als Zuschauer sollte man sich nicht allzu stark an das Morbide in «The Ballad of Buster Scruggs» gewöhnen: Der Ton ändert sich schlagartig zum Dramatischen in «Meal Ticket», wenn Liam Neeson als berechnender Wanderzirkusbetreiber seinen verkrüppelten Prosa-Prediger (wem das Gesicht sonderbar bekannt vorkommt: Harry Melling spielte damals Dudley Dursley in «Harry Potter») für ein rechnendes Huhn vom Programm streicht.
Und auch das längste und sich von seiner Art deutlich vom Kurzfilm-Charakter der restlichen 5 Episoden abhebende Kapitel namens «The Gal Who Got Rattled» mit Zoe Kazan, die zusammen mit ihrem Bruder per Treck samt Hund, Hab und Gut nach Oregon reist, um dort einen ihr unbekannten Geschäftspartner ihres Bruders zu heiraten, lädt nicht mehr wirklich mit zynischem Humor zum Lachen ein.
Gemeinsam sind den 6 Episoden vor allem zwei Dinge: Sie sind ein visuelles Feuerwerk – genau für solche Weitaufnahmen von verschneiten Hügelketten und kargen Steppenlandschaften wäre man froh um eine Grossleinwand oder zumindest ein einigermassen daran heranreichendes Heimkino – und lassen allerlei Interpretationsspielraum, welche politischen Messages die Coen-Brüder mit ihren düsteren und hoffnungslosen Märchen-Segmenten überbringen wollen: Ihr Wilder Westen ist von weissen Männern dominiert; Frauen kommen selten bis gar nicht vor, und die Ureinwohner Amerikas sind skalpjagende Rabauken.
«The Ballad of Buster Scruggs» fühlt sich ein wenig an, als hätte man ein Speed-Dating mit sehr unterschiedlichen, auf ihre Weise ganz unterhaltsamen Kandidaten, die alle auf einen Leben-oder-Tod-Showdown hinauslaufen. Vielleicht ist das auch das Problem an dieser Western-Interpretation: Die meisten Geschichten hätten mit ihren einzigartigen Figuren und ihrer Atmosphäre das Potential, als Film zu funktionieren – alles in allem machen die sehr ungleichen Einzelteile deshalb aber kein stärkeres Ganzes.
Nichtsdestotrotz zählt der Film zu den Stärkeren im Netflix-Repertoire: Ein zweiter Blick lohnt sich – auch, weil sich in diesem visuell umhauenden Speed-Dating insbesondere für Coen-Fans weitaus mehr als nur ein passender Kandidat finden lassen sollte.
3.5 von 5 ★
«The Ballad of Buster Scruggs» ist ab sofort auf Netflix verfügbar.
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