Article6. Januar 2020 Noëlle Tschudi
Netflix-Kritik «Dracula»: Eine Frischzellenkur für den Fürsten der Finsternis
Auf Bram Stokers Kult-Roman "Dracula" basierende Filme und Serien gibt es wie Sand am Meer. Die kreativen Köpfe hinter der gefeierten BBC-Serie «Sherlock» haben sich für Netflix an eine weitere Adaption gewagt, die Vampir-Fans nun mit zahlreichen frischen Ideen in ihren Bann ziehen soll.
Kritik von Peter Osteried
Bram Stokers Roman “Dracula” ist einer der großen Klassiker, der es verträgt, dass alle paar Jahre eine neue Adaption produziert wird, wobei diese dem Text mal mehr, mal weniger treu bleibt. Nun haben sich Steven Moffatt und Mart Gatiss, die zuvor Sherlock Holmes einer Frischzellenkur unterzogen haben, daran gemacht, Stokers Roman auf eine moderne Weise umzusetzen. Anfangs scheinen sie sich noch nahe an die Vorlage zu halten, dann zeigt sich jedoch immer mehr, dass das Autoren-Duo sehr eigene Ideen hat, was aber auch den Reiz dieser dreiteiligen Miniserie ausmacht. Weil man auch als Kenner der Vorlage nicht weiß, was kommt.
Alles beginnt im Jahr 1897, als Jonathan Harker in einem ungarischen Kloster von Schwester Agatha befragt wird. Er konnte Dracula entkommen, sein Bericht, wie er dies bewerkstelligen konnte, ist jedoch recht flüchtig, weswegen die Schwester, die mit Gott hadert, aber um das Böse in der Welt weiß, mehr Details hören möchte. Sie erfährt davon, wie Harker als Anwalt zum Schloss des Grafen kam, wie dieser ihn umgarnte, wie er immer länger bleiben musste und wie er immer schwächer wurde. Aber wie er entkommen konnte, das ist ein Mysterium, dem sich auch Jonathan Harker selbst stellen muss.
Zum Ende des zweiten Teils präsentieren Moffatt und Gatiss einen Twist, den man nicht kommen sieht.
Das ist der Auftakt der Miniserie. Die erste Folge dreht sich ganz und gar um Harker und seine Zeit im Schloss. In den meisten Verfilmungen wird dieser Teil der Geschichte eher nebensächlich abgehandelt, hier tritt er in den Fokus. Das gleiche gilt auch für den zweiten Teil, der auf der Demeter spielt, jenem Schiff, mit dem Dracula die Reise nach London antritt. Moffatt und Gatiss weichen hier weit vom Quelltext ab. So detailverliebt wie hier wurde die Reise nie geschildert. Selbst Stoker hat ihr in seinem Buch nicht allzu viel Platz eingeräumt. Hier nutzen die Autoren die Gelegenheit jedoch, um die Boshaftigkeit Draculas noch stärker herauszuarbeiten, aber auch, um alles vorzubereiten, um den Zuschauer von den Füßen zu reißen.
Denn zum Ende des zweiten Teils präsentieren Moffatt und Gatiss einen Twist, den man nicht kommen sieht und der auf den ersten Blick auch etwas zweifelhaft erscheinen mag. Der dritte Teil wirkt darum auch ein wenig losgelöst von dem, was zuvorkam. Man könnte sogar sagen: Er ist schlechter als die ersten beiden Teile, aber die Autoren haben es dennoch geschafft, diesen erzählerischen Knick interessant zu gestalten.
«Dracula» ist eine faszinierende und packende Neuinterpretation, die es wagt, mit Konventionen und Erwartungen zu brechen.
Es gibt hier mehr zu beanstanden als in den ersten beiden Folgen, weil die Nebenfiguren deutlich blasser und uninteressanter ausgefallen sind, aber dieser Abschluss ist das konsequente Modernisieren, das sich Moffatt und Gatiss auf die Fahnen geschrieben haben. Im Grunde dürfte es nicht funktionieren, im Kontext dieser drei Episoden ergibt das Ganze aber auf perfide Art und Weise Sinn. Moffatt und Gatiss orientieren sich dabei an Stoker, gehen aber immer radikalere eigene Wege – nicht unähnlich Francis Ford Coppola in «Bram Stoker’s Dracula», der den Fürsten der Finsternis trotz aller Werktreue auch von der Vorlage loslöste und ihn vermenschlichte.
Genau dies geschieht hier nicht. Denn die Autoren verändern viel, aber sie zeichnen Dracula als eine zwar manierierte Kreatur, aber dennoch eine, deren Bösartigkeit legendär ist. Das gelingt auch so gut, weil der dänische Schauspieler Claes Bang in der Rolle ganz und gar aufgeht. Er spielt Dracula mit irritierend bösem Charme, der aber nie darüber hinwegtäuscht, welch Monster hier auf Erden wandelt. Als seine Gegenspielerin brilliert Dolly Wells, deren Figur auch nicht aus dem luftleeren Raum kommt, sondern sich auf Stokers Roman berufen kann. Auch das ist ein Teil der Modernisierung dieser Geschichte, weil Moffatt und Gatiss mit Geschlechterrollen spielen – und das längst nicht nur, indem Dracula bei der Wahl männlicher oder weiblicher Bräute nicht großartig differenziert.
«Dracula» ist eine faszinierende und packende Neuinterpretation, die es wagt, mit Konventionen und Erwartungen zu brechen. Das mag polarisieren, große Kunst sollte immer aber auch zu Gefühlswallungen beim Publikum führen.
4 von 5 ★
«Dracula» ist ab sofort auf Netflix verfügbar.
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