Bones and All Italien, Grossbritannien, USA 2022 – 131min.
Filmkritik
Leben, lieben, verschlingen
Der italienische Regisseur Luca Guadagnino setzt sein amerikanisches Abenteuer mit einer Liebesgeschichte zwischen Kannibalen fort, für die er bei den 79. Filmfestspielen in Venedig mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde.
Maren Yearly (Taylor Russell) war ein ganz normales kleines Mädchen, bis sie eines Tages wie auch schon ihre Mutter Menschenfleisch isst. Der Vater sieht sich gezwungen nach diesem Vorfall mit ihr umzuziehen. Es bleibt nicht bei einem Einzelfall, so hat der Wohnortwechsel kein Ende und Maren hat Schwierigkeiten, einen festen Halt zu finden. Als junge Frau ist Maren nun auf sich allein gestellt und macht sich auf die Suche nach ihrer Mutter in der Hoffnung, herauszufinden, wer sie wirklich ist. An der Seite des faszinierenden Lee (Timothée Chalamet), der ebenfalls ein Kannibale ist, begibt sie sich auf eine Reise durch die USA.
Nach dem internationalen Durchbruch «Call Me By Your Name» (2018) setzt Luca Guadagnino seinen sensiblen Blick auf junge Erwachsene fort. Seine beiden neuen Protagonisten geben sich hier einer quälenden Irrfahrt hin, auf der Flucht vor einer Gesellschaft, in der sie als Ausgestossene, monströse Aussenseiter betrachtet werden. In gewisser Weise erinnert die Geschichte an Werke wie «Die wilde Ballade» (1973) oder «Bonnie & Clyde» (1967), doch dem Regisseur gelingt es, sein Roadmovie mit einer überraschenden Prise Horror zu dynamisieren.
Diese alles in allem klassische Geschichte macht diese kannibalistische Romanze dennoch fesselnd, oft seltsam, aber überraschend berührend. Auch wenn die wenigen Sequenzen der Verkostung einige abschrecken werden, stehen sie dennoch nicht im Mittelpunkt des Films, der sich eher auf metaphorische Weise damit beschäftigt, insbesondere um das Verlangen seiner Figuren auszudrücken. Guadagnino spielt also an der Grenze zum Fantastischen, indem er manchmal in die für das Genre typische Übertreibung verfällt, aber nie in einer Art und Weise, die ihn ausgrenzt.
Eine solche Prämisse erfordert also Darsteller, die der Herausforderung gewachsen sind. Auf der einen Seite Taylor Russell, die in Venedig für ihre Darstellung einer gequälten jungen Frau auf der Suche nach ihrer Identität ausgezeichnet wurde und eine packende Performance liefert; auf der anderen Seite Timothée Chalamet, der sich selbst treu bleibt, aber diesmal eine wilde und mysteriöse Aura ausstrahlt. Ebenfalls zu loben ist der tadellose Mark Rylance, der aus seiner Komfortzone heraustritt und eine ebenso magnetische wie furchterregende Nebenrolle spielt.
All diese Menschen werden vom Regisseur gut zur Geltung gebracht. Er schafft es, mal auf intime Weise den Puls einer gequälten Jugend zu fühlen, mal ihre betörende Verlorenheit in den riesigen amerikanischen Weiten einzufangen, aber auch für einige Nervenkitzel zu sorgen, auch wenn er hier nicht am meisten glänzt. «Bones and All» ist ein Film, der zwischen Romanze und poetischem Roadmovie angesiedelt ist und genau wie seine Protagonisten überrascht und fasziniert.
Übersetzung aus dem Französischen von Damien Brodard durch Zoë Bayer.
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