Ohikkoshi Japan 1993 – 124min.
Filmkritik
Die Beschwörung einer Leerstelle
Der Klassiker des japanischen Filmemachers Shinji Sômai, «Ohikkoshi», ist in einer restaurierten Fassung wieder in den Kinos zu sehen. Eine Gelegenheit, ein Meisterwerk (wieder) zu entdecken, eine Scheidungsgeschichte, die auf Augenhöhe eines Kindes erzählt wird.
In den 90er-Jahren lebt die junge Renko mit ihrer Mutter und ihrem Vater in einem Vorort von Tokio. Die Ehe ist zerrüttet und als ihr Vater beschliesst, auszuziehen, erschüttert die Aussicht auf eine Scheidung das junge Mädchen. Da Renko nicht weiss, wie sie mit ihrer Mutter umgehen soll oder wie sie mit der Scham über die Trennung ihrer Eltern in der Schule umgehen soll, verliert sie sich inmitten dieser komplexen Emotionen. Um mit dem Mangel und der Abwesenheit zurechtzukommen, wird Renko unruhig, rennt und flüchtet immer wieder, als ob sie versuchen würde, diese beiden Welten, die unaufhörlich zusammenbrechen, wieder zu vereinen.
1993 in Cannes in der Auswahl Un Certain Regard vorgestellt, wird sich die Nachwelt vor allem an Takeshi Kitanos «Sonatine» erinnern, der in jenem Jahr ebenfalls an der Croisette gezeigt wurde. Shinji Sômai und sein „Déménagement“, der ohne Verleiher auskommen musste, gerieten neben seinen Kollegen Hirokazu Kore-eda, Shohei Imamura (Goldene Palme 1997), Akira Kurosawa und sogar Hayao Miyazaki ein wenig in Vergessenheit. «Ohikkoshi» ist die zehnte Regiearbeit des Regisseurs, gehört aber dennoch zu den wichtigsten Filmen des japanischen Kinos. Das im Heimatland verehrte Werk über das Erwachsenwerden kann nun endlich im Kino bestaunt werden.
Tomoko Tabata, damals 12 Jahre alt, spielt Renko und verleiht diesem Mädchen, das sich vor Schmerz über die Scheidung seiner Eltern verzehrt, eine glühende Energie. Shinji Sômai kristallisiert in seinen dämmrigen Filmsequenzen, die durch die Aussenbezirke Tokios oder an die Ufer des Biwa-Sees mit seinem berühmten Feuerwerksfest streifen, ein Gefühl der Verlorenheit heraus. Gemäldeartige Einstellungen, betäubendes Licht (und ein bisschen Vintage), betörende Musik und erschütternde Performances: Zwischen der Emanzipation der Mutter und der sozialen Deklassierung des Vaters umspannt «Ohikkoshi» sowohl Japan an der Schwelle zum 21. Jahrhundert als auch die Streifzüge einer einsamen Kindheit. Es gibt 1001 Gründe, sich dieses Meisterwerk anzusehen, das dreissig Jahre lang (fast) im Verborgenen blieb.
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