Filmkritik
Erwachsen werden in Kirgisistan
Zentralasien ist weit weg, für westliche Kinogänger i.d.R. Terra incognita. Der kirgisische Regisseur Aktan Abdikalikow füllt nun diesen weissen Fleck auf der cineastischen Landkarte. Der in Locarno mit dem Silbernen Leoparden ausgezeichnete Film lässt uns teilnehmen am Leben des 14-jährigen Beshkempir, der auf der Schwelle zum Erwachsenwerden mit der Tatsache konfrontiert wird, dass er adoptiert wurde.
Der Name des jugendlichen Titelhelden (dargestellt vom Sohn des Regisseurs) bedeutet eigentlich "fünf alte Frauen". Im Prolog, der sich durch seine satte Farbigkeit vom sonsten schwarz/weiss gedrehten Film optisch abhebt, wird das Adoptionszeremoniell von fünf Dorffrauen durchgeführt. Beshkempir selb erfährt weder von Adoptiv-Eltern noch Grossmutter die Wahrheit seiner Herkunft. Knapp 14 Jahre später begegnen wir ihm in der Mitte seiner jugendlichen Freunde. Sie wühlen im Schlamm, sie scheuchen einen Bienenschwarm auf, vor dem die Bande sich in den Schlammtümpel hinein rettet. Doch auf die sorglosen Kindheitsvergnügen wirft bereits die Erwachsenenwelt ihre Schatten. Der strenge Vater ermahnt Beshkempir zur Mitarbeit. Eine verheissungsvolle Zukunft hingegen verspricht ein Ausflug in die Nachbarschaft, wo die Heranwachsenden durch eine Ritze eine beleibte nackte Frau beäugen. Anschliessend werden keine Sandkuchen mehr gebacken, sondern übungshalber nackte Frauen in den Sand modelliert. Als Postilion d'amour für einen älteren Freund macht sich Beshkempir mit den lokalen Regeln des Werbens vertraut. Ihm selber geht die schöne Aynura nicht mehr aus dem Kopf, erste Annäherungsversuche anlässlich einer Kinovorführung auf dem Dorfplatz erweisen sich als vielversprechend. Ein enttäuschter Nebenbuhler konfrontiert Beshkempir mit der Wahrheit um seine Adoption. Die Verunsicherung, die diese Enthüllung beim Jungen auslöst, verstärkt sich durch die fortgesetzte Geheimniskrämerei seiner Familie.
Während das literarische Kirgisistan manchen von uns durch die Erzählungen von Dschingis Aitmatow schon seit Jahren vertraut ist, gelangt mit "Beshkempir" das erste Mal seit der Ablösung von der früheren Sowjetunion ein unabhängiger, in französischer Co-Produktion entstandener kirgisischer Film in die hiesigen Kinos. Er kann dem von der westlichen Kritik als zentralasiatische "Nouvelle Vague" bezeichneten Filmschaffen zugeordnet werden, das sich nicht nur inhaltlich sondern auch formal von früheren sowjetischen Filmproduktionen abzugrenzen versucht. Der 1957 geborene Aktan Abdikalikow verarbeitet in seinem Film Autobiographisches. Wie sein Filmheld erfuhr auch er erst während seiner Adoleszenz von seiner Adoption. "Beshkempir" ist ein sorgfältig komponierter Film, der mit seinen ruhigen, langen Einstellungen den Zuschauer dazu bringt, sich auf den bedächtigen Rhythmus einer vorindustriellen dörflichen Gemeinschaft einzulassen. Dabei will er weniger Milieustudie als Darstellung einer zeitlosen Erfahrung sein; die strukturierte Lebens- und Arbeitswelt der Erwachsenen bildet nur einen erzählerischen Kontrast zur Unbekümmertheit der Kinder. Wenige gezielt gesetzte farbige Einsprengsel verstärken - neben wiederkehrenden symbolischen Elementen - den Eindruck, der Film sei hintergründiger, als es die einfache Geschichte vielleicht vermuten liesse. Mit "Beshkempir" ist ein Film gelungen, der wie selten einer die Sinnlichkeit der Natur im Kino greifbar macht. Eine unaufdringliche, aber desto wirksamere Tonspur verstärkt diese Unmittelbarkeit: So entsteht der Eindruck, als ob man nur die Hand ausstrecken müsste, um mit den Jugendlichen zusammen im Schlamm zu wühlen, mit Beshkempir durch eine windgeschüttelte Baumallee zu wandern oder mit ihm nach Fischen jagend durchs Wasser zu waten. Wenn in der Szene mit dem Dorfkino zudem auf den gebannt blickenden Gesichtern die Faszination fürs Kino deutlich wird, dann liegt Kirgisistan für einen Moment vielleicht doch nicht so weit von uns entfernt.
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