Filmkritik
Gerechtigkeit
Nach seinem Thriller "The Spanish Prisoner" und mehreren aktuellen gesellschaftskritischen Theaterstücken und Drehbüchern (so zum Beispiel für "Wag the Dog") drehte der vielseitig begabte David Mamet für viele überraschend einen Film über einen Rechtsstreit in England zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Drehbuch basiert auf Terence Rattegans historischem Drama The Winslow Boy.
Der Prozess um ein an sich geringfügiges Delikt kann sich in einer komplizierten Justiz zum grossangelegten Rechtsstreit ausweiten, der monatelang die Gemüter der Öffentlichkeit erhitzt. Ein solcher Fall ereignet sich 1912, als der junge britische Marinekadett Ronnie Wilson (Guy Edwards) aus dem Dienst "entlassen" wird, weil man ihn beschuldigt, einen Postcheck gestohlen zu haben. Er beteuert seinem Vater, unschuldig zu sein, was den liebenswürdigen Patriarchen (Nigel Hawthorne) dazu bewegt, alles in Gang zu setzen, um seinen Sohn reinzuwaschen.
Mit Sturheit geht der Vater ans Werk. Er engagiert den gefürchteten Anwalt Sir Robert Morton (Jeremy Northam). Der Fall wird zum Politikum, und das öffentliche Interesse an der Sache wird zum Spiessrutenlauf für die Familie des Angeklagten, vor allem für dessen Mutter (Gemma Jones). Hier wird klar, dass sich Paparazzi und aufdringliche Boulevardblätter nicht erst im ausgehenden 20. Jahrhundert an der Privatsphäre von arglosen Bürgern und königlichen Toten vergehen. Schon um die Jahrhundertwende bestand offenbar das Bedürfnis, private Angelegenheiten in der Presse gross herauszustreichen.
Auch die ältere Schwester Catherine (Rebecca Pidgeon) des Angeklagten steht ihrem Bruder tatkräftig bei. Dazu nimmt sie sogar in Kauf, dass ihr Verlobter unter dem Druck seines Vaters das Hochzeitsversprechen auflöst. Als Aktivistin der Frauenbewegung und Kämpferin für das Frauenstimmrecht ist sie es gewöhnt, auf ein scheinbar unerreichbares Ziel hin zu arbeiten.
Ein eigentlich unbedeutender Fall kann nicht bloss die englische Öffentlichkeit lange in Atem halten. David Mamet hat es verstanden, den Stoff filmisch packend umzusetzen. Die zwischenmenschlichen Spannungen wirken echt und die Wärme in der Familie Winslow beneidenswert. Dass die Zuschauer mit den Betroffenen des Gerichtsfalls mitfühlen können, ohne je zur Rührseligkeit verleitet zu werden, verdankt der Film nicht zuletzt der ausnahmslos hervorragenden Leistung der Schauspieler. Viel Rhythmusgefühl im Schnitt (Barbara Tulliver) trägt schliesslich dazu bei, dass man die Aufregung der englischen Öffentlichkeit über einen kleinen Fall, der doch immerhin die unantastbare Krone in Frage stellt, nachvollziehen kann.
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