Filmkritik
Cyberliebe
Thomas selber - soviel vorweg - bekommt man im ganzen Film nicht zu Gesicht. Dafür sieht man die Welt so, wie er sie sieht: durch den Bildschirm. Die Belgier Pierre-Paul Renders und Philippe Blasband (Drehbuch) schaffen ein Universum aus Innenräumen –privaten und im Internet inszenierten –, in dem Bildtelefone Alltag sind und Cybersex mindestens nichts aussergewöhnliches. Science Fiction light.
Thomas’ Leben wird bestimmt von einer extrem ausgeprägten Agoraphobie, die es ihm verunmöglicht, ins Freie zu gehen. Seit acht Jahren hat er seine Wohnung nicht mehr verlassen, genauso wenig hat jemand anders sie betreten. Eine Versicherung regelt sein Leben, mit der Aussenwelt kommuniziert er per Video-Telefon. Er wimmelt seine überbesorgte Mutter ab, unterhält sich mit seinem Psychiater oder beschwert sich beim Kundendienst einer Staubsaugerfirma. Der Film zeigt eineinhalb Stunden lang nur, was Thomas fast ununterbrochen ansieht: einen Computer-Bildschirm.
Verordnete Partnerinnensuche
Mit Thomas’ Ruhe ist es vorbei, als ihm mit ärztlicher Autorität Kontakt zum anderen Geschlecht verordnet wird und sein Psychiater ihn ohne seine Einwilligung bei einer Partnervermittlungsagentur anmeldet. Gleichzeitig erfährt er, dass seine Versicherung die Dienste einer Prostituierten einschliesst. So kommen nun Frauen freiwillig und ungebeten auf ihn zu, gleichzeitig nimmt er Kontakt mit einem Internet-Bordell auf. Die Beziehungen gestalten sich erwartungsgemäss nach allen Seiten hin schwierig.
Zeitverschiebung
Die Welt von "Thomas est amoureux" ist der Gegenwart in technischer Hinsicht etwas voraus. In gesellschaftlicher hingegen dominiert der Selbstfindungstrip der Siebzigerjahre (von Farb- bis Urschreitherapie), in etwas überzeichneter Form. In Sachen Mode ist man nahe an der Gegenwart; wer auf Tätowierungen verzichtet, vor allem im Gesicht und auf der Glatze, scheint völlig out. Tätowierungen sind noch immer in Mode, insbesondere im Gesicht und auf der Glatze. Durch diese Mischung von naher Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit entsteht eine zeitliche Desorientierung - bei Star Trek hiesse das wohl "paralleles Raum-Zeit-Kontinuum" oder so ähnlich -, die dem Film etwas Schwebendes, Unwirkliches verleiht und empfänglich macht für die Fabulierlust und die Freude an den Bildern.
Hang zum Didaktischen
Gleichzeitig steht der in seiner Krankheit gefangene Thomas in seiner Isoliertheit allzu deutlich für die Neigung zu einem Individualismus, der zwischenmenschliche Beziehungen und Solidarität verunmöglicht, und die – so die unmissverständliche Botschaft des Film – überwunden werden muss. Renders pendelt zwischen einer verlockenden Bildwelt und diesem didaktischen Anspruch, auf den man gerne verzichten würde. Zum Glück überwiegt die Lust an den Bildern - bei den Filmemachern, wie auch im Publikum.
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