Seit Otar fort ist... Belgien, Frankreich 2003 – 102min.

Filmkritik

Das Leben in Gedanken

Flavia Giorgetta
Filmkritik: Flavia Giorgetta

Trotz Armut und Zankereien halten es drei Frauen drei verschiedener Generationen in Tiflis miteinander aus. Sie fühlen sich verbunden durch einen Abwesenden und durch nicht aussprechbare Sehnsüchte. Ein feinfühliges Drama der Französin Julie Bertuccelli.

Seit Otar gegangen ist, leben seine Schwester, deren Tochter und seine Mutter in einem komplexen Frauenhaushalt in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Die verschrobene Oma Eka (Esther Gorintin) scheint bloss auf Otars Briefe (und sein Geld) aus Paris zu warten, die Mittvierzigerin Marina (Nino Khomasuridze) leidet darunter, dass Eka sie ständig messerscharf kritisiert, und Ada (Dinara Doukarova) sehnt sich weit weg von dieser Stadt, die stillzustehen scheint. Sie hat die Frankophilie ihrer Grossmutter geerbt: Die beiden sprechen Französisch miteinander, und Ada wird auch ein Paris erdichten, wie Eka es aus der Literatur kennt.

Denn Ada wird zu Otar, sie fantasiert sich sein Leben, wie es hätte sein sollen - wäre er nicht auf einer Baustelle verunfallt. Als Ada und Marina telefonisch von seinem Tod erfahren, finden sie nicht die Kraft, Eka die Wahrheit zu erzählen. So liest Ada der Grossmutter weiterhin regelmässig "Otars" Briefe vor – bis seine Mutter beschliesst, Otar in Paris zu besuchen.

Das Leben der drei Frauen wird durch Abwesendes bestimmt, auf das sie ihre Sehnsüchte richten. Dabei wird Otar zum eigentlichen Füllwort für sie wie für das Kinopublikum, das ihn ja bloss auf einem - gefälschten - Bild gesehen hat. Ada lebt gedanklich an seiner Stelle ein ausgefülltes Leben im Paris. Sie schreibt zunächst den Wünschen der Grossmutter entgegen, entwickelt aber eine mit jedem Geisterbrief gesteigerte Sucht nach dieser imaginären Stadt, die so nichts gemein hat mit Tiflis. Die Traumstadt surrt vor projizierter Energie, während die georgische Kapitale ihre Lethargie auf die Menschen überträgt. Adas Verehrer spricht zwar vom Abhauen, doch es klappt nicht, und die Frauenfamilie selbst bleibt in ihren alten Mustern verstrickt, Otars Tod hin oder her. Sie haben sich arrangiert miteinander, und Ekas Tyrannei ist ebenso Ritual wie Adas Aufbäumen gegen die Mutter.

Gleichzeitig steckt der Film voller kleiner Zärtlichkeiten: Füssemassieren, Berührungen, Blicke. Der grösste Liebesbeweis der drei so charakterstarken Frauen an diese merkwürdige Familie ist die Lüge, die alle aufrecht erhalten. Dieses utopische Scharnier, der verlorene Sohn, kann so zusammenhalten, was auseinander strebt. Die Komplexität der Beziehungen macht die Glaubwürdigkeit dieses kleinen, feinen Films aus, der aus dem Leben gegriffen erscheint. Und tatsächlich arbeitete die Regie führende Französin Julie Bertuccelli bislang als Dokumentarfilmerin. Ihr erster Spielfilm zeugt von ihrem Flair für kleine Geschichten, welche die Widersprüchlichkeiten des Lebens spiegeln.

07.06.2021

4

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