Filmkritik
Abschied von den Eltern
Das als Kindheitserinnerung aufgezogene Drama von Marcelo Piñeyro ist die berührende Schilderung der letzten gemeinsamen Wochen einer Familie, die unter der argentinischen Militärdiktatur zerfällt.
"Und dann", heisst es in "Kamchatka", "kam der Abend des legendären Spiels." TEG spielen der zehnjährige Harry und sein Vater. Das dem bekannteren "Risiko" verwandte Brettspiel spielt man eigentlich zu dritt oder viert, Harry jedoch tritt immer nur gegen seinen Vater an. Gewinner ist, wer alle Staaten der Welt erobert.
Normalerweise verliert Harry. An besagtem Abend jedoch besitzt sein Vater irgendwann nur noch das kleine Kamchatka am Rande der Welt. Trotzdem vermag er sich gegen Harry Stunde um Stunde zu wehren. Damals, sagt Harry, habe ich begriffen: Kamchatka ist der Ort des letzten Widerstandes, der letzten Hoffnung. Das ist die wichtigste Lektion, die der Junge im fünften Spielfilm des Argentiniers Marcelo Piñeyro von seinem Vater auf den Lebensweg mitbekommt.
Zwei Tage später übergeben seine Eltern ihn und seinen Bruder auf einem abgelegenen Parkplatz der Obhut seines Grossvaters: Ein mit den Eltern auf Nimmerwiedersehen davonbrausender, gelber 2CV und ein bis zur Erschöpfung dem Auto nachrennender Bub stehen am Schluss dieses herzzerbrechend berührenden Familiendramas aus Südamerika.
Piñeyro zieht seine Geschichte als Ich-Erzählung eines Buben auf, die aus verspielten Erinnerungen schöpft. Sie erzählt von den letzten Wochen, die Harry und sein jüngerer Bruder im Herbst 1976 mit ihren Eltern, einem regimekritischen Anwalt und seiner wissenschaftlich tätigen Gattin, verbringen. Als ein Kollege des Vaters verhaftet wird, taucht die Familie unter.
Als grosses Spiel erklären die Eltern den Söhnen ihr Leben unter neuem Namen am Rande von Buenos Aires. Der umgetaufte "Harry" aber tut sich schwer mit der neuen Situation. Er kümmert sich zwar liebevoll um seinen kleineren Bruder. Doch die neue Schule und die Tatsache, dass er seinen besten Freund nicht einmal anrufen darf, findet er schlicht beschissen.
Kinderspiele, TV-Soaps, im Swimmingpool ertrinkende Kröten, eine Biographie des Entfesslungskünstlers Harry Houdini: In sprechenden Metaphern und Bildern von herbstlicher Sentimentalität schildert "Kamchatka", wie eine argentinische Familie im Klima permanenter Bedrohung durch die Militärdiktatur langsam zerbricht. Einfühlsam spielen Ricardo Darin und Cecilia Roth ein Elternpaar, das in der Überzeugung, politisch richtig zu handeln, zunehmend von der Gewissheit gequält wird, dass es seine Kinder nicht aufwachsen sehen wird.
"Kamchatka" ist durch den konsequenten Verzicht auf die Darlegung politischer Hintergründe nicht immer einfach zu verstehen. Trotzdem ist Marcelo Piñeyro ein bewegendes Polit- und Familiendrama gelungen, das sich mit starken Bildern nachhaltig in die Erinnerung einschreibt.
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