Filmkritik
Inderwahnsinn
Einfach, aber alles andere als einfältig: Aparna Sens Lehrstück über die menschliche Solidarität in Zeiten des religiösen Wahnsinns.
Es beginnt als Multi-Kulti-Jubel-Trubel auf einer Busfahrt im bergigen Hinterland Südindiens und endet als, aufgepasst, Un-Happy-End im Eisenbahnhof von Kalkutta. Dazwischen liegt eine Busfahrt, im Verlaufe derer ein Mann und eine Frau sich viel näher kommen, als sie dürften.
Die strenggläubige Hindufrau aus der Kaste der Brahmanen (Konkona Sen Sharma) und der aufgeklärt-muslimische Fotograf aus den Bengalen (Rahul Bose) treffen sich nicht ganz zufällig. Eine Seefahrt mag hierzulande lustig sein, aber nicht eine Busreise in Indien - schon gar nicht für eine Frau mit Baby. Was sich als höfliches Reichen der Wasserflasche und reisetypischer Small-Talk à la "interessant, was Sie da sagen, aber mein Buch ist gerade so spannend, ja?" anlässt, wird urplötzlich existenziell, als der Bus eine Gegend erreicht, wo fanatische Hindus radikale Moslems jagen. Sie rettet sein Leben, indem sie ihn als ihren Ehemann ausgibt; er dankt es ihr, indem er an ihrer Seite bleibt, wähernd ein Dorf im Blut des religiösen Wahnsinns zu ertrinken droht. So beginnt eine Liebesgeschichte, die keine wird, aber eines von ganzem Herzen ist: Ein Plädoyer für die Verständigung.
"Mr. and Mrs. Iyer" wurde im Jahre 2002 am Filmfestival Locarno gezeigt, damals von der Presse aber viel zu wenig wahrgenommen und nachher allzu schnell vergessen. Kein Wunder: Aparna Sens Geschichte von der menschlichen Solidarität in Zeiten des religiösen Wahnsinns vermittelt eine Ahnung von indischem Arthouse, ist ein leiser Kontrapunkt zu den lärmig-lustigen Sing- und Tanzspielen, den Marathon-Melodramen, die seit ein paar Jahren auch die hiesigen Kinosäle füllen. Mit "Bombay" beispielsweise, dem bis dato vermutlich Kassenbesten, verbindet "Mr. and Mrs. Iyer" vielleicht das Thema, aber damit hat es sich auch schon. Das ästhetische Programm von Aparna Sen heisst Implosion statt Explosion und hat sich fast komplett jener Exzentrik und Extravaganz entledigt, die man als Inderwahnsinn namens Bollywood liebt oder eben nicht.
"Mr. and Mrs. Iyer" mag ein einfacher Film sein, er leistet aber dennoch zweierlei: Einerseits zeichnet er ein reales Bild von den Problemen, die dem Riesenland Indien mit seinen achtzehn Sprachen und mindestens ebenso vielen Religionen eigen sind; andererseits skizziert er den Weg, der aus dem Jammertal religiöser Fehden herausführt. Der Weg heisst Toleranz, und er beginnt im Kleinen. Nicht nur in Indien.
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