Filmkritik
Doppelleben
Die junge tunesische Filmemacherin Raja Amari präsentiert in "Satin Rouge" ihre Version der weiblichen Emanzipation: Lilia, Mutter und frühe Witwe, befreit sich mit Bauchtanz von gesellschaftlichen und familiären Zwängen.
Seit dem Tod ihres Mannes bleibt Lilias (Hiam Abbas) Alltag auf die kargen Räume ihrer Wohnung, die sie mit Hingabe sauber hält, reduziert. Dort näht sie Kleider für ihre Nachbarinnen, schaut stundenlang Soap Operas am TV und bemüht sich darum, ihre beinahe erwachsene Tochter Salma (Hend El Fahem) zu einer verantwortungsbewussten und respektierten Frau zu erziehen. Sie reagiert mit Unverständnis, als sie entdeckt, dass sich Salma in Chokri (Maher Kamoun), einen Musiker aus dem Nachtclub "Satin Rouge", verliebt hat. Ein unziemlicher Umgang für Salma, den sie verbietet, um den die Mutter ihre Tochter aber heimlich auch beneidet.
Um mehr über den Freund ihrer Tochter und dessen Umgebung zu erfahren, begibt sich Lilia eines Abends an den gesellschaftlich geächteten Ort, wo respektable Familienväter und Geschäftsmänner fasziniert den lasziven Bauchtänzerinnen zuschauen. Chokri scheint jedoch für Lilia nur ein Vorwand, um diese ihr so fremde und geheimnisvolle Welt zu betreten. Einer Schlafwandlerin gleich, scheu und wie hypnotisiert, bewegt sie sich an diesem ersten Abend durch die Menge. Und sie geht wieder hin. Vom Star des Nachtklubs, der frivolen Folla (Monia Hichri), wird sie eines Abends aufgefordert zu tanzen. Und Lilia beginnt zu tanzen. Zuerst zurückhaltend, dann immer freier und ekstatischer. Sie tanzt weniger für die Männer als für sich selber. Doch erst als sie die Kontrolle über ihren Körper und ihren Tanz erlangt, wird sie wirklich gut und kann die Männer im kollektiven Taumel mit der Musik verführen.
Der palästinensischen Schauspielerin Hiam Abass gelingt es mit eindrücklicher Intensität, die Verwandlung der Lilia auf die Leinwand zu bannen: von der perfekt angepassten Hausfrau und Mutter zur ekstatischen Bauchtänzerin und schliesslich zur emanzipierten Frau, die ihre beiden Leben vollkommen im Griff hat. Am Tag bleibt Lilia die unscheinbare, fleissige Frau, wie sie die Nachbarn, Verwandten und auch ihre Tochter seit jeher kennen. Letztere merkt nur an Kleinigkeiten, etwa den neuen, modernen Schuhen, dass sich ihre Mutter verändert. Am Abend wird Lilia zum Star des "Satin Rouge". Ihr Doppelleben widerspiegelt auch die doppelte Moral der tunesischen Gesellschaft, die die Vergnügungen der Nacht und die Sehnsüchte des Einzelnen einerseits vollkommen ausblendet, andererseits aber auch stillschweigend akzeptiert.
Chokri wird von Lilia sexuell angezogen, ohne zu wissen, dass sie die Mutter seiner Freundin ist. Nach einer heissen Liebesnacht wird klar, dass Lilia jetzt nicht nur die Kontrolle über ihr eigenes Leben, sondern auch über das Leben ihrer Tochter hat. Die fragile Dreiecksgeschichte, die nun beginnt, steigert sich jedoch nicht zum erwarteten melodramatischen Höhepunkt. Regisseurin Raja Amari geht es nicht darum, konventionelle Sehgewohnheiten zu befriedigen. Sie erzählt konsequent von der Befreiung ihrer Protagonistin. Der Tanz als Metapher für die Befreiung funktioniert, die wilden Tanzszenen fesseln. Lilia kann durch die Kontrolle über ihren Körper sich selber verwirklichen, und ganz am Schluss darf sie die Befreiung auch im eigentlichen Sinn erleben, wenn sie das erste Mal nicht in der dunklen, abgeschiedenen Enge des "Satin Rouge" tanzt. Doch weiss man als ZuschauerIn, auch in Zukunft wird sie die Rolle der angepassten Frau weiter spielen müssen, um nicht vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu werden.
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