Filmkritik
Albtraum mit Sonnenbrille
Regisseur Michael Haneke liebt es, wenn Ahnungslose ins schlimmste Unglück ihres Lebens geraten. Als eine Familie mit ihren beiden Kindern im Wochenendhaus auf dem Land ankommt, lauert schon die erste üble Überraschung, die aber nur den Leidensweg einläutet.
Das Haus ist von Fremden in Beschlag genommen worden, die nun die rechtmässigen Eigentümer berauben und fortjagen. Anscheinend hat eine Katastrophe die gesellschaftliche Ordnung zerstört, da auch in dem nahegelegenen Dorf alles drunter und drüber geht und keine Hilfe zu finden ist. Schliesslich gelangt die Familie zu einer Bahnstation, an der bereits andere auf einen Zug warten, der sie retten soll. An dieser Gruppe der Wartenden kann man nun ein Abbild der menschlichen Gesellschaft in einer Extremsituation beobachten.
Waren in "Funny Games" nur zwei Familien betroffen, geht es diesmal einer ganzen Region an den Kragen. Das mag nicht überraschen, konzentriert sich Michael Haneke doch in allen seinen Filmen auf menschliche Katastrophen, und als Steigerung kam ein schlimmeres persönliches Leiden oder das Ausweiten auf mehr Betroffene in Frage.
Mehr Geschundene rufen aber nicht zwangsläufig grösseres Mitgefühl hervor, worum es Haneke allerdings auch nicht geht. Ihm ist auch nicht wichtig, wie oder warum die Gesellschaft und die Versorgung mit Strom, Wasser und Lebensmitteln zusammengebrochen sind, sondern wie Einzelne in dieser Situation reagieren, wie sich minimale Strukturen entwickeln, die ein Zusammen- und Überleben ermöglichen sollen. Trotz der desaströsen Lage verzichtet Haneke wie in seinen früheren Filmen auf aufgemotzte Kulissen, übersteigerte Effekte und eine komplizierte, unglaubwürdige Handlung.
Stattdessen widmet er sich wenigen Figuren, die exemplarisch Gruppen einer Gesellschaft repräsentieren: Die Mutter, die für ihre minderjährigen Kinder sorgt, der jugendliche Außenseiter, der Machtmensch, das Sektenmitglied, der Ausländer als Sündenbock, der Ausländerhasser, die Opportunistin und so fort. Wie in einem Labor kann man das Verfallen der Sitten, die Macht- und Überlebenskämpfe, das Entstehen neuer Beziehungen und das Überschreiten der normalen psychischen und physischen Grenzen beobachten. Das Szenario dieser Eisenbahnstation am Ende der Welt kombiniert wesentliche Elemente aus Tarkowskis "Offret" und Lars von Triers "Dogville". Der Mensch wird auf seine elementaren Bedürfnisse reduziert: Atmen, Essen, Trinken, Schlafen, Sex.
Trotz seiner ungeschminkten Ästhetik gelingen Haneke, wohl auch wegen seiner hohen handwerklichen Qualität, eindringliche, manchmal an Godard erinnernde Bilder, die durch ihre Dunkelheit die depressive Atmosphäre wirksam transportieren. Überzeugend verkörpert werden die Laborratten, die sich ohne Erfolgsgarantie und mit unbekanntem Ziel abrackern, durch die herausragenden SchauspielerInnen Isabelle Hupert, Olivier Gourmet ("Le Fils"), Maurice Bénichou ("Amelie de Montmartre"), Béatrice Dalle ("Betty Blue") und Patrice Chéreau sowie durch weitere gut ausgewählte, weniger bekannte KollegInnen. Dieser Film gibt wenig zu lachen, dafür umso mehr zu denken.
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