Les petites gens Frankreich, Kazakhstan 2003 – 85min.

Filmkritik

Geteilte Freuden

Flavia Giorgetta
Filmkritik: Flavia Giorgetta

Zwei Männer teilen Wohnung, Frau und Job - bis in einer langen Nacht ihr Selbstverständnis erschüttert wird. "Les petites gens" lotet die manchmal durchlässige Grenze zwischen Freundschaft und Begehren aus. Eine Beziehungsgeschichte aus Kasachstan.

Am Anfang scheint ein impressionistisches Bild die Leinwand zu füllen: Verschwommenes Blau fliesst über in Rot wie in einem Gemälde von Monet. Die Kamera stellt scharf, ein Paisley-Muster kristallisiert sich heraus. Mit zunehmendem Abstand wird klar, dass wir nicht einfach ein Foulard sehen, sondern Boxershorts. Darin ein Körper, nicht Knabe und nicht richtig Mann. Die Distanz bestimmt die Wahrnehmung, und manchmal sehen wir nicht scharf, was vor uns liegt.

So ergeht es Bek (Erjan Bekmuratov) und Max (Oleg Kerimov), zwei Filous, die sich eine kleine Wohnung teilen. Auch wenn sie einander ständig beobachten - lange nehmen sie sich nicht wirklich wahr, und ihre Gefühle bleiben unter Verschluss. Für eine ominöse Organisation verkaufen sie Ramsch auf den Strassen von Almaty, der Hauptstadt Kasachstans. Der Charmeur Max hat keine Skrupel, Ärmere abzuzocken, während Bek mit seiner schüchternen Art oftmals ins Leere läuft - bei ihm piepsen nicht mal die Schlüsselanhänger, wie sie sollten.

Oft hängt an Max' Tür ein Stopp-Schild, Bek lauscht lakonisch dem Stöhnen, und eines Morgens tritt eine schöne, mysteriöse Berufskollegin aus Max' Zimmer. Die Frau in Rot fasziniert auch Bek, der trotz (oder dank) seiner Scheu dieselbe Frau in sein Klappbett kriegen wird. Sie ist freilich blosse Schablone, ein Auffangbecken für undenkbares Begehren. Die geteilte Frau vereinigt die Freunde eher, als dass sie einen Keil zwischen sie triebe - nicht sie selbst zählt, sondern das gemeinsame Erlebnis der Männer. Doch als Bek und Max eines Morgens aneinander geschmiegt und ohne Boxershorts aufwachen, das Gedächtnis weggetrunken, wankt Bek von Scham zu Ungläubigkeit und schliesslich zu Wut. Macho Max aber wirkt plötzlich souverän: Solche Dinge könnten nun mal passieren. Besonders zwischen zwei Männern, die sich Wohnung, Beruf und Liebhaberin teilen, einander dabei stets genug Raum geben und doch ohne einander nicht sein wollen.

Die Zärtlichkeit zwischen Max und Bek wird in den detailverliebten Einstellungen gespiegelt, die auf Stoffen wie auf Haut haften bleiben. Freundschaft und Lust verschmelzen in diesem filmischen Juwel, dass eher ein östliches Pendant zu John Schlesingers "Midnight Cowboy" darstellt als ein ethnografisches Sozialdrama. Nicht nur die "kleinen Leute" werden in den Mittelpunkt gerückt, sondern das Kleine im Leben, die Momente von Verbundenheit und flüchtigem Glück, die das Leben liebenswert machen.

Mit dem Laien Erjan Bekmuratov als schweigsamer, junger Bek und Oleg Kerimov als nonchalanter Max hat Regisseur Nariman Turebayev für seinen ersten Langspielfilm zwei hervorragende Schauspieler gefunden, die in kleinen Gesten grosse Gefühle vermitteln. Wenn am Schluss der Schlüsselanhänger endlich blinkt und fiept, ist das mehr als nur der Zufall des Moments: Für Bek ist es Liebeserklärung und Triumph zugleich.

23.06.2004

5

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