Filmkritik
Frankreich auf dem Bonbonpapier
Mit der Thronfolge des Reformers Mohammed VI im Jahr 1999 ist es in Marokko möglich geworden, die problematische Geschichte des Landes aufzugreifen. "Mille mois" ist der erste Film, der zu dieser Thematik entstehen konnte und hat mehrere Preise gewonnen, darunter 2003 den Prix "Le premier regard" in Cannes.
Das Bonbonpapier, das der achtjährige Mehdi gegen die Sonne hält, schillert in allen Farben. Darin erkenne man Frankreich, erklärt er seinem Spielkameraden. Doch dieser sieht nichts und verschwindet.
Es ist eine der schönsten Szenen dieses Films, der in einem kleinen marokkanischen Dorf zur Zeit des Ramadan spielt. Korruption, Gewalt, Verbot der Meinungsfreiheit prägen das Land in den frühen Achtzigerjahren. Mutter und Grossvater, bei denen Mehdi lebt, versuchen das Kind von der dunklen Realität möglichst abzuschirmen: Seinen Vater glaubt Mehdi in Frankreich - in Wahrheit sitzt er im Gefängnis wegen der Teilnahme an einem Streik.
Im Laufe des Films aber beginnt sich Mehdi langsam von seiner Kindheit zu lösen. Sein grösster Stolz ist es, auf den Stuhl des Lehrers aufzupassen, der sich als zentraler Gegenstand des Films erweist. Einerseits verwickelt er Mehdi in Streitereien mit neidischen Klassenkameraden, vor allem aber hängt von ihm ab, ob der Unterricht stattfindet. So löst denn sein Verschwinden im Dorf einen grossen Tumult aus.
Regisseur Faouzi Bensaïdi beschränkt sich nicht auf Mehdis Perspektive, sondern wechselt ständig den Blickwinkel. Damit entsteht ein vielschichtiges Bild der marokkanischen Gesellschaft, wobei Frauen nicht nur in die Opferrolle gezwängt und Männer nicht zu intoleranten Tyrannen gemacht werden. Da ist etwa die rebellische ältere Freundin Mehdis, der die freie Meinungsäusserung zum Verhängnis wird oder der Fernsehtechniker, der für seine Geliebte die Ausstrahlung einer Soap-Folge im ganzen Dorf sabotiert, damit nur sie die Fortsetzung kennt. Immer wieder lässt Bensaïdi in seine kritische Sichtweise auch Humor einfliessen.
Durch das Streifen der vielen Lebensgeschichten haftet dem Film etwas Episodenhaftes an - der Facettenreichtum geht auf Kosten einer fliessenden Erzählweise. Bensaïdis filmischer Stil mag für manche Zuschauer ungewohnt sein: Anders als in den meisten Filmen, wo Emotion durch Nahaufnahmen erzeugt wird, besteht "Mille mois" vorwiegend aus weiten Einstellungen. Die Figuren bewegen sich in Innenräumen und in der Endlosigkeit der Landschaft - somit bleibt immer eine gewisse Distanz zu den Figuren erhalten. Für Bensaïdi aber kann sich Emotion nur entfalten, wenn sich der Mensch im Raum aufhält. Und die Entdeckung dieses Raumes lohnt sich wegen der Bildgewalt des Films: Die eindrücklichen Aufnahmen in warmen, satten Farben und eine stille Atmosphäre, in der jedes Geräusch wahrnehmbar ist, machen den Film zu einem sinnlichen Erlebnis.
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