Exils Frankreich, Japan 2004 – 105min.

Filmkritik

Rückkehr zu den Wurzeln

Andrea Lüthi
Filmkritik: Andrea Lüthi

Ein junges Paar reist nach Algerien, in die Heimat seiner Eltern. Das Thema von Tony Gatlifs mitreissendem und emotionalem Film ist nicht ganz zufällig, ist doch der Regisseur selbst in den 60er-Jahren aus diesem Land emigriert.

Mit gewaltiger Intensität setzt der Film ein und packt einem vom ersten Moment an. Unendlich lange währt der Blick auf einen nackten Rücken, begleitet von einem leidenschaftlichen Sprechgesang: Die von Wut und Verzweiflung erfüllte Stimme - sie gehört der Sängerin Rona Hartner, die bereits für "Gadjo Dilo" mit Tony Gatlif zusammengearbeitet hat - beklagt die Abwesenheit der Demokratie. Die Musik ertönt aus einem Zimmer, irgendwo in Paris. Zano (Romain Duris) steht nackt am Fenster, seine Freundin Naïma (Lubna Azabal) schleckt im Bett mit viel Hingabe Eis. Es ist der Moment, in dem Zano aus heiterem Himmel vorschlägt, nach Algerien zu reisen - in das Land, aus dem ihre Eltern einst nach Frankreich flohen.

Die Idee wird umgesetzt. Weite Strecken legt das Paar zu Fuss zurück und begegnet dabei verschiedenen Völkergruppen: Immer wieder sind es Heimatlose - Fahrende etwa, oder afrikanische Emigranten, die sich als Plantagenarbeiter die Reise ins vermeintliche Paradies verdienen. Während sie von einem Leben in Paris oder Amsterdam träumen, treibt das Gefühl der Entwurzelung Zano und Naïma zurück.

In einer Szene vergleichen die beiden ihre Narben. Die manchmal fast zur Schau gestellte Lebenslust Naïmas, ihre verrückten Ideen täuschen nicht darüber hinweg, dass die Verletzungen nicht nur physisch sind. Später in Algier wird sie sagen: "Ich fühle mich nicht wohl hier, ich fühle mich überall fremd."

"Exils" enthält einige sehr berührende Momente, etwa wenn Zano auf einem Foto seinen Vater mit der Geige erkennt, die er seit dem Unfall seiner Eltern nicht mehr gespielt hatte. Die Geschichte leidet zwar an einigen Durchhängern, aber schliesslich bilden Atmosphäre und Musik die Hauptpfeiler dieses Films. Gatlif misst der Ästhetik grosse Bedeutung bei: Ausgesuchte Settings und sinnliche Handlungen wie auf der Nektarinenplantage gehören ebenso dazu wie lange Kamerafahrten, interessante Kamerawinkel und Bildkompositionen. Und wie so häufig spielt die Musik auch in diesem Gatlif-Film eine inhaltlich tragende Rolle. Sie ist Zanos und Naïmas ständige Begleiterin, ertönt aus der Konserve oder live: In Andalusien begegnen sie dem Flamenco, und je näher sie ihrem Ziel kommen, desto exotischer werden die Instrumente. Musik, so scheint es, vereinigt die Menschen, gibt ein Stück Heimat und erzeugt Gemeinschaftsgefühl.

Die Krönung schliesslich bildet ein spirituelles, musikalisches Ritual in Algier, bei dem sich die Menschen in Trance tanzen. Die fast zehnminütige Sequenz entspricht einer tatsächlichen Feier, und der plötzliche Bruch, die Stille, lässt einen betäubt zurück. Dieses reinigende Ritual scheint das Paar zu verändern. Naïmas Augen drücken nicht mehr dieselbe Traurigkeit aus, und beide scheinen gelöster. Auch wenn ungewiss bleibt, wie ihre Zukunft aussehen wird, findet eine Art Versöhnung mit den eigenen Wurzeln statt.

07.03.2022

4

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