Filmkritik
Wo die Albatrosse über dem Meer schweben
Nur an Originalschauplätzen gedreht, erzählt "Koktebel" von der Reise eines Vaters mit seinem Sohn. Der Film der beiden russischen Regisseure Boris Chlebnikow und Alexej Popogrebskij hat an Filmfestivals mehrere Preise gewonnen, darunter den Grossen Preis der Jury und den Preis der Filmkritik FIPRESCI am Filmfestival Moskau sowie den Spezialpreis am Filmfestival Vyborg.
Eine einsame Gegend irgendwo zwischen Moskau und Koktebel. Es giesst in Strömen, man hört einen Zug vorbeirattern. Ein Hund trottet in die Unterführung, bellt und wird von irgendwoher zurückgepfiffen. Nach einiger Zeit verlassen ein Vater und sein Sohn ihren Unterschlupf, beladen mit Plastikblachen und Gepäck. Die beiden sind nach Koktebel unterwegs, wo die Schwester des Vaters lebt.
Nahezu mittellos, klauen sie Äpfel oder fahren auch einmal schwarz in einem Güterzug. Die Menschen, denen sie begegnen, sind mitunter hilfsbereit, gelegentlich sind es wieder dubiose Gestalten - wie der Eigenbrötler, dem sie ihre Dienste anbieten, um die Weiterreise zu finanzieren.
Nach und nach lässt sich ihre Vorgeschichte aus den Anspielungen des Vaters erahnen: So lehnt er etwa jeglichen Alkohol ab - bis er zuletzt doch nicht widerstehen kann und damit prompt ein Unglück heraufbeschwört. Doch lernen die beiden dadurch eine Frau kennen, in die sich der Vater verliebt. Als er ihretwegen die Reise abbrechen will, begehrt der Junge auf. Koktebel ist sein Ziel, und dieses glaubt er notfalls auch alleine zu erreichen. Denn dieser Ort auf der Krimhalbinsel ist für ihn im Laufe der Reise zur Traumdestination geworden: Immer wieder muss ihm der Vater - ein ehemaliger Flugzeugbauer - von dem dortigen Luftstrom erzählen, der sich für die Fliegerei besonders eignet und von den Albatrossen, die sich stundenlang vom Wind tragen lassen.
Alles was mit Luft und Fliegen zusammenhängt fasziniert den Jungen: In seiner Phantasie schaut er sich selber immer wieder aus der Vogelperspektive zu, bewundert Albatrosse in Büchern und brennt drauf, das Modellflugzeugdenkmal in Koktebel zu sehen, um dort mit dem Luftstrom zu experimentieren. Trotz dieser wiederkehrenden Motive drängt der Film den Zuschauern keine Interpretation auf, sondern lässt viel Raum zur Reflexion.
So sind auch die Dialoge zurückgenommen zugunsten der visuellen Wahrnehmung. Und auch hier besticht der Film durch seine unaufdringliche Ausdrucksweise. Eine statische Kameraführung und lange Einstellungen kennzeichnen seine Ästhetik: Die Figuren nähern sich dem Betrachtenden aus der Weite der Landschaft, oder sie verlassen das Bild und treten wieder hinein, ohne dass die Kamera ihnen folgt. Die niedrige Schnittfrequenz ist verbunden mit vielen Totalen und Panoramaeinstellungen, um den Figuren genügend Bewegungsraum zu lassen. "Vergessene Kamera" nennen die beiden Regisseure ihren am Dokumentarfilm orientierten Stil, der bewirken soll, dass die Bilder von sich aus lebendig werden. Wichtig sei auch, so die beiden Filmemacher, die Variationen einzubeziehen, welche Natur, Schauspieler und das Leben hinzufügen: "Denn ohne diesen Einfluss kann der Film nur eine Illusion vermitteln, aber nicht das Gefühl von Leben."
Die Geschichte selber trägt etwas Episodenhaftes, zumal sich aussergewöhnlich viele Ab- und Aufblendungen finden - oftmals erinnern die Aufnahmen so an Tableaux: Am Ende der Sequenzen scheinen Vater und Sohn bisweilen in einer Pose zu verharren. Und so endet auch der Film - mit einem poetischen Bild, das alles offen lässt.
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