La face cachée de la lune Kanada 2003 – 105min.

Filmkritik

La face cachée de la lune

Filmkritik: Irene Genhart

Robert Lepages neuster Leinwandstreich ist die wunderbar schnoddrige Verfilmung eines seiner besten Solostücke und gipfelt in der existenziellen Frage, ob der Mensch im All der einzige seiner Art sei.

"Tectonic Plates", "Elegant Universe", "Seven Streams of the River Ota", "Circulations", "Geometry of Miracles", "Zulu Time": Robert Lepage hat eine höchst eigenwillige, sich oft schon in den Titeln seiner Stücke und Filme andeutende Vorliebe, die conditio humanis im Verhältnis zur geographischen Beschaffenheit der Welt zu betrachten und die zwischenmenschliche Beziehungen seiner Figuren durch bei den Naturwissenschaften entliehene Symbole auszudrücken.

Ganz stark prägt dieser Gestus sein anno 2000 uraufgeführtes Solostück "La face cachée de la lune", das Robert Lepage vor einem Jahr mit sich selber in der doppelten Hauptrolle verfilmte. Darin markieren die helle und dunkle Seite des Mondes - auf ewig zusammen gewachsen, gleichzeitig sich aber auch immer voneinander abwendend - die schwierige Beziehung zweier grundverschiedener und sich seit Jahren entfremdeter Brüder.

Jede für sich symbolisieren die beiden Seiten aber auch den Charakter eines der beiden Brüder: Das helle, der Welt zugewandte steht für den schwulen, extrovertierten und erfolgreichen André, der als Wetteransager beim Quebecer TV arbeitet. "La face cachée" aber, die der Welt abgewandte, dunkle, vom Bombardement zahlloser kosmischer Trümmer und dem Aufprall unzähliger Meteoriten zerfurchte und verschrammte Hälfte des Mondes, steht für den älteren Philippe, der denn auch im Zentrum von Lepages Film steht.

Philippe ist schüchtern, weltfremd, verträumt. Ein ewiger Student, der wiewohl gut einiges über dreissig Jahre als noch immer an einer verschrobenen Dissertation über den Weltraumpionier Ziolkowski werkelt und noch immer bei seiner Mutter wohnt. Doch nun hat sich Mama das Leben genommen und Philippe muss sich nicht nur mit ihrem Tod abfinden, sondern auch lernen, alleine zu wohnen und den Alltag zu bewältigen. Am meisten Mühe aber macht ihm, dass er nicht darum herum kommt, sich mit seinem Bruder auseinanderzusetzen, der fortan nicht nur sein einziger noch lebender Verwandter, sondern auch die einzige ihm nur einigermassen vertraute Person ist.

Robert Lepage - die beiden grundverschiedenen Brüder mit einer bis in die kleinste Geste reichenden Finesse derart differenziert spielend, dass jede verkleidungstechnische Unterstützung eigentlich überflüssig ist, hat seinen fünften Film ganz auf DV-Material gedreht.

Er bricht die gegenwärtig spielende Handlung immer wieder durch in die späten 60er und frühen 70er Jahre führende Rückblenden auf; begründet Philippes vermeintliche Lebensuntauglichkeit mit einer in die Kindheit fallenden Krebserkrankung, übermässigem Musik- und Drogenkonsum und seiner haltlosen Leidenschaft für alles, was mit Gesteinen und Gestirnen zu tun hat.

So mündet "La face cachée de la lune" in der existenziellen Frage, ob der Mensch eine im All einzigartige Erscheinung sei und endet als bisweilen spitzbübisch verspieltes, de facto aber höchst philosophisches Movie in der tröstlichen Einsicht, dass die Welt, wie abgehoben oder desaströs das Leben eines Einzelnen auch verläuft, sich einfach immer weiter dreht.

04.05.2021

4

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