Wild Side Belgien, Frankreich, Grossbritannien 2004 – 94min.

Filmkritik

Wahlfamilie

Filmkritik: Andrea Bleuler

Der etwas andere Film rund ums Ableben eines Familienmitglieds: In Sébastien Lifshitz' an Festivals preisgekröntem Werk begleitet eine transsexuelle Prostituierte, unterstützt von ihrer neuen, ungewöhnlichen Familie, die letzten Tage ihrer Mutter. Keine Diskussion um Normalität oder Moral, sondern eine Art Dokument.

Wenig Musik, wenig Worte, dafür lange, stumme Momente. Als ob alles andere nur ablenken würde. Sylvie (Stephanie Michelini, offensichtlich zum erstenmal vor der Kamera) ist eine enorm attraktive transsexuelle Prostituierte, die gerade dabei ist, ihr letztes bürgerliches Familienmitglied zu verlieren. Ihr Vater und ihre Schwester sind bereits verstorben.

Doch mittlerweile hat sich Sylvie eine eigene Familie aufgebaut: ein bisexueller russischen Deserteur (Edouard Nikitine) und ein Strichjunge aus dem Maghreb (Yasmine Belmadi) begleiten sie in den Norden Frankreichs, wo die leibliche, schwer erkrankte Mutter in ihrem heruntergekommenen Haus in einer trostlosen Gegend auf ihren Tod wartet. Sie alle sind im Endeffekt einsame Seelen im Kampf um ihre Würde.

Regisseur Sébastien Lifshitz hält seinen Film explizit und romantisch zugleich. Konflikte gibt es selten - die sind längst ausgestanden. Die drei liegen sich in den nächsten 90 Minuten in den Armen, etwa wie eine Gorilla-Sippe im Zoogehege. Die einzige Bedrohung kommt von Aussen, in Form von bürgerlichen Schatten: Familienmitglieder, die ihre Wahl nicht verstehen.

"Wild Side" hat im Übrigen nichts Übersentimentales an sich. Die Ereignisse sind aneinandergereiht und zeigen nur ganz dezent Einblick in die Seelen, bevor ganz zuletzt ein Tränenausbruch die in Langweile hochgezüchtete Spannung bricht.

Nein, man ist nicht mehr geschockt, wenn die Kamera an einem weiblichen Körper vorbeizoomt, an dem auch noch ein männliches Glied ist. Doch mit dem Warten auf das Nichts in der Einsamkeit des menschlichen Daseins kann sich jeder identifizieren, und das muss irgendwie Grund genug sein, um die Existenz dieses Films zu rechtfertigen.

10.11.2020

3

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