Summer Palace China, Frankreich 2006 – 138min.

Filmkritik

Luft und Hiebe

Stefan Gubser
Filmkritik: Stefan Gubser

Gefährlich freizügig: Der chinesische Regisseur Lou Ye porträtiert die Studenten-Generation, die auf dem Platz des himmlischen Friedens ihre Unschuld verlor.

Probleme mit der Zensurbehörde kennt Lou Ye seit "Shouzou River" (2000), seinem Erstling über einen Filmemacher, der sich die Geschichte seiner Geliebten imaginiert, die auch eine Meerjungfrau ist. Zwei Jahre Berufsverbot waren die Quittung dafür, dass das Liebesdrama in Möglichkeitsform ohne offizielle Einwilligung auf den internationalen Festivals für Furore sorgte. Auch als "Summer Palace" 2006 im Wettbewerb in Cannes lief, fehlte das Okay von oben. Neckisch war die behördliche Begründung, die eingereichte Kopie sei so schlecht gewesen, dass sie eine Beurteilung des Filmes nicht zugelassen habe.

"Unscharf" ist die chinesisch-französische Koproduktion indes gerade nicht - am wenigsten fürs Auge. Hatte Lou Ye sich in "Shouzou River" noch in buchstäblich traumhaften Bildern versucht, so umkreist er jetzt auf nie gesehene Weise den Albtraum, der seit dem Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens die höllische chinesische Realität war; sogar ein paar originale Fernseh-Bilder jenes Blutbads tauchen im Film auf. Aber das ist nicht das eigentliche Tabu, an das er rührt: Richtig scharf ist "Summer Palace" nämlich vor allem, weil er den versuchten politischen Aufbruch auch als sexuellen begreift und diesen so freizügig ins Bild setzt wie wohl noch kein anderer chinesischer Film vor ihm.

Im Zentrum von "Summer Palace" steht eine Studentin (fantastisch: Hao Lei), die 1989 aus der Provinz nach Peking zieht, an der Universität in eine verblüffend frivole Welt eintaucht und sich in einer "amour fou" verliert, die sich in jene Sphären katapultiert, in denen Liebende sich verlassen, weil ihnen dämmert, dass sie sich nie wieder trennen können. Auf die Höhepunkte im Bett folgen die Tiefschläge auf der Strasse, folgen Jahre der Vereinzelung, Verlorenheit und verzweifelten Beischlafs. Und wie das Liebesspiel zerfällt "Summer Palace" in ein Davor und Danach; trauriger Höhepunkt ist das Massaker auf dem Tian-An-Men-Platz genau in der Mitte. Der Einschnitt hinterlässt auch im Film seine Spuren. Die Handkamera der ersten Stunde, die sich wie atemlos durch Gänge und Menschen drängt und nur im Halbdunkel der Liebesnester innehält, beruhigt sich im selben Masse wie sich das drängende Vorwärts der Geschichte verliert. Etliche Kritiker haben das mit Langeweile verwechselt. Eine lange Weile wird es auch bis zu Lou Yes nächstem Film dauern: China soll ihn fünf Jahre auf keinem Set mehr sehen wollen.

17.02.2024

4

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