Joschka und Herr Fischer Deutschland, Schweiz 2011 – 138min.
Filmkritik
Austern für alle und Bomben auf Belgrad
Eine erstaunliche Politkarriere: 1948 in eine ungarndeutsche Arbeiterfamilie geboren, gerät Joschka Fischer in das Umfeld der Hausbesetzerszene, tritt den Grünen bei und wird sowohl erster grüner Landes- als auch Bundesminister. Im Wechsel mit Kommentaren von Zeitzeugen und Archivmaterial kommentiert der frühere deutsche Aussenminister seinen politischen Weg und die jüngere europäische Geschichte.
Wenn Fischer den Fall der Berliner als unvorstellbar kommentiert, dann gilt das auch für seinen eigenen Weg: Niemand hätte diesem Arbeiterjungen zugetraut, er würde sein angestammtes rechtes politisches Milieu verlassen und nach seinen Erfahrungen im Häuserkampf sogar das nach dem Bundeskanzler gewichtigste Exekutivamt bekleiden. Auch wenn die aktuelle arabische Revolution nicht mehr Thema sein kann, so kommt diese Doku doch gerade zur rechten Zeit, denn im Ländle hat der erste grüne Ministerpräsident sein Amt angetreten und ist damit gewissermaßen in die Fußstapfen Fischers getreten, der in der Nähe Stuttgarts aufwuchs. So versteht man am Ende besser, wie das politische System der BRD funktioniert und warum die Grünen zwischen SPD und CDU zu einer gleichwertigen Kraft aufsteigen konnten. Daran hat Fischer einen wesentlichen Anteil, der als Realo nicht nur Freunde in seiner an Fundis reichen Partei hatte.
Ein Vortrag über die persönliche und politische Geschichte könnte todlangweilig sein, aber Fischer ist ein begnadeter Redner, der nicht nur auf den Podien und an den Pulten den richtigen Ton trifft, sondern auch in der künstlichen Umgebung, die Regisseur Pepe Danquart mit Filmprojektionen geschaffen hat. Fischer steht zwischen diesen Projektionswänden, auf denen Archivmaterial zu sehen ist, und lässt sich von den Bildern in die jeweilige Zeit zurückversetzen. In sogenannten Exkursen erzählen Kollegen wie der bekannte Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit oder kommentieren kluge Köpfe wie Roger de Weck, was sie mit Fischer erlebt haben und wie sie sein Wirken einschätzen. Da wird die Persönlichkeit Fischers noch in einem anderen Licht sichtbar, während in seinen eigenen Worten das Private weitgehend ausgespart bleibt; man muss mit dem Eindruck vorlieb nehmen, den Worte, Mimik und Gestik hinterlassen.
Die Kombination von Vortrag, Kommentar und epochalem Archivmaterial hat Pepe Danquart in eine lebendige Form gegossen, die auch Geschichtsmuffel bestens unterhält. Dass das Selbstbild Fischers keinen echten Kratzer bekommt, kann man akzeptieren, weil das Material eigene Schlüsse zulässt.
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Kommentare
Sehr interessant und dabei auch recht unterhaltsam und recht kurzweilig.
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