Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht Frankreich, Deutschland 2013 – 231min.
Filmkritik
Unstillbare Sehnsucht
Wie viele andere träumt auch Jakob Simon (Jan Dieter Schneider) in der Mitte des 19. Jahrhunderts von der Emigration aus Deutschland ins ferne Brasilien - doch sein Traum bleibt unerfüllt. Mit dem Prequel zu seinem grossen Heimat-Zyklus legt Edgar Reitz nochmals ein Meisterwerk vor, das seinesgleichen sucht.
Vor 30 Jahren hat Edgar Reitz mit dem 16-stündigen Heimat einen epochalen Filmzyklus begonnen, den er 1992 mit Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend und 2004 mit Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende fortsetzte. Die andere Heimat, der den Untertitel "Chronik einer Sehnsucht" trägt, ist nun ein Prequel zum ersten Film, in dem Reitz die Geschichte der Familie Simon im fiktiven Hunsrücker Dorf Schabbach von 1919 bis 1982 erzählte: Im Zentrum stehen nun die Vorfahren der Familie Simon, die in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts in Schabbach eine Schmiede betreiben.
Mit stupendem Detailreichtum und einem Erzählrhythmus, der auch der Rhythmus dieser langsameren Epoche ist, lässt Reitz den Zuschauer fast vier Stunden lang in das alltägliche ländliche Leben in der Mitte des 19. Jahrhunderts eintauchen. Nichts wirkt hier gestellt, sondern eine längst vergangene Zeit erwacht zum Leben, wenn man dem Schmied bei der Arbeit, dem Dreschen von Stroh, dem Onkel am Webstuhl oder der Feldarbeit zusieht. Im Mittelpunkt steht der junge Jakob Simon, der nicht die Schmiede des Vaters übernehmen will, sondern lieber liest und Sprachen der südamerikanischen Ureinwohner studiert als bei der Arbeit zu helfen. Die Emigration nach Brasilien ist sein grosser Traum, doch immer wieder kommt etwas dazwischen.
Reitz versteht es nicht nur grossartig, eine vergangene Zeit zum Leben zu erwecken, sondern ist auch ein meisterlicher Erzähler. Ganz selbstverständlich bettet er die individuellen Schicksale in die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts ein und entwickelt zart eine Liebesgeschichte, die durch zu grosse Zurückhaltung und Zögern zerbricht. Die geduldige Erzählweise erlaubt es dem 82-jährigen Regisseur aber auch, unterstützt von einem grossartigen Ensemble, jeder seiner Figuren Profil zu verleihen. Vertraut werden einem so die Charaktere im Laufe dieser grandiosen und überreichen 230 Minuten, bis sich am Ende der Kreis schliesst, wenn wie am Beginn ein Pferd über den Dorfplatz trabt und ein Postbote einen Brief aus der anderen Welt bringt.
Im historischen Gewand erzählt Die andere Heimat dabei aber auch von Universellem und grundsätzlich Menschlichem: vom Traum und der grossen Sehnsucht der Jugend nach Freiheit und einem besseren Leben, der immer wieder kollidiert mit dem Wunsch nach Zugehörigkeit und Verwurzelung - Heimat eben - und vom Weiterleben, auch wenn die Lebensträume zerbrechen.
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