Immer wieder das Meer Frankreich, Japan, Spanien 2014 – 121min.
Filmkritik
Der Liebe und des Meeres Wellen
Wasser verbindet und trennt, umschlingt und verschlingt. Der jüngste Film der Japanerin Naomi Kawase, die 2007 für ihren Film Der Wald der Trauer in Cannes den Jurypreis erhielt, ist ein betörendes, auch verstörendes Bildwerk über Leben und Tod, Ängste, Berührungen, aufkeimende Liebe und Vereinigung. Eine magische Romanze und Bildreise.
Das Meer – Sinnbild und Lebenssinn, Gefahr und Gefährte, Lebensraum und Existenz. Unzählige Male wurde es besungen, beschworen, beschrieben. Franz Grillparzers «Des Meeres und der Liebe Wellen» von 1831 ist ein Trauerspiel um die tragische Liebe der Priesterin Hero und des junge Leander. Die Götter bestrafen Leander, weil er durch seine Liebe gesetzliche Grenzen missachtet hat. Seine Leiche spült das Meer an den Strand.
Eine Leiche mit Schlangentatoos findet sich am Strand der japanischen Insel Amami-Oshima, doch dabei handelt es sich nicht wie bei Leander um einen jungen Liebhaber. Der 16-jährige Kaito (Nijirô Murakami) entdeckt den toten Fremden und schweigt wie auch Kyoko (Jun Yoshinaga), die mit ihm verabredet ist. Doch das ist nur eine Nebenepisode. Im Kern geht es der japanischen Regisseurin Naomi Kawase um die Geschichte der beiden Teenager, Nachbarskinder, die viel Zeit miteinander verbringen – am Strand, auf dem Velo in trauter Zweisamkeit. Kyoko liebt das Meer, fühlt sich ihm verbunden – emotionell wie physisch. Ihr Gefährte Kaito ängstigt sich dagegen, will sich nicht ins Wasser locken lassen. Beide spüren sexuelle Begehren, doch erst tragische Ereignissen lösen ihre Fesseln. Das Meer als Sehnsucht und Gefahr, am Ende wird es zum Liebesbett.
Dieses zärtlich-poetische Coming-of-Age-Werk in wundersam einnehmenden Bildern ist Spiegelung eines Mikrokosmos, Familien- und Sittengemälde. Kyokos totkranke Mutter, eine Schamanin also Seherin, geht fröhlichen Sinnes ins Jenseits – umgeben von Liedern, die ihr Verwandte am Sterbebett vortragen. Keine Klagegesänge, sondern Trost und Bekenntnis zur Glückseligkeit. Mag sein, dass hier Kawases inniges Filmpoem etwas esoterisch wirkt, aber die Botschaft ist positiv. Kyokos «heile» Familie wird den zerrütteten Verhältnissen entgegengestellt, mit denen Kaito leben muss. Seine Mutter, vom Mann verlassen, der in Tokio ein Künstlerleben führt, sucht Befriedigung bei anderen. Ist einer ihrer Liebhaber der Tote am Strand?
Als weiser Kommentator fungiert ein alter Mann, vielleicht Kyokos Grossvater. Er kennt das Meer, das Leben und danach. Er ist Halt und weist dem Pärchen den Weg. Kyoko, die Emanzipierte, und Kaito, der Unsichere, sind auf dem Weg, sich zu finden, sich ihrem Begehren, der Liebe zu öffnen. Kawases Film ist ein spirituelles Gedicht, das Mensch und Natur verbindet, Leben und Tod, Sehnsucht und Vertrauen. Ein stilles Meisterwerk in einer lauten Kinozeit.
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Kommentare
Ein anspruchsvoller Arthouse Film. Bereits der deutsche Titel macht Kopfzerbrechen. Es ist die Antwort auf die Frage ‘Und was sonst noch? ‘ Antwort: “Da ist immer noch das Meer“. Der des Originals lautet ‘Das zweite Fenster‘ und bleibt kryptisch.
Im Dialog wird die Metapher vom Menschen als Welle verwendet. Sie hat Energie, bewegt sich eine zeitlang und vergeht. Nur das Meer an sich ist ewig. Es bleibt.
Der Film als Ganzes ist schön. Nichts als schön. Auch wenn schon mal ein Schocker eingebaut ist, wie die geöffnete Halsschlagader einer kopfüber aufgehängten Ziege, die unter kläglichem Gewimmer ausblutet.
Aber auch andere Dinge der aufgedröselten Handlung, die auf einer kleinen abgelegenen japanischen Insel spielt, erschließen sich uns nicht ganz leicht. Da stellen die taschenphilosophischen Gespräche über den Tod noch das geringste Hindernis dar.
Die Liebesgeschichte zwischen Kaito (Nijiro Murakami) und Kyoko (Jun Yoshinaga) steht zwischen ihren sehr unterschiedlichen Müttern. Ihre Mutter Isa (Miyuki Matsuda) ist sterbenskrank und Schamanin, seine Mutter Misaki (Makiko Watanabe) geht in Richtung Nymphomanin, was Kaito lange daran hindert Kyokos Drängen nachzugeben. Der Schamanismus ist uns ebenso fremd wie das Totenritual im Film. Der Fund einer Leiche am Strand wirft Fragen auf, ein Taifun bringt das Meer ganz schön in Wallung und Vater und Großvater verkünden allgemein gültige Weisheiten. Diese Insel im Meer ist inhaltlich und von der Machart her tausendmal weiter von uns entfernt als der Mond. Aber der große runde Erdtrabant ist auch schön anzuschauen.… Mehr anzeigen
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