Hedi Belgien, Frankreich, Tunesien 2016 – 88min.
Filmkritik
Die Qual der Entscheidungen
Der arabische Frühling ist weit entfernt. Eigentlich nur ein paar Jahre her, aber kaum noch spürbar. Zumindest für den Protagonisten aus Mohamed Ben Attias Hedi, der ein Leben lebt, das mit Freiheit kaum etwas zu tun hat. Dabei ging es doch darum. Das Land befreien, sich selbst befreien, ein besseres Leben führen. Aber irgendwie ist alles gleich: Er steht immer noch unter der Fuchtel seiner Mutter.
Tunesien ist im Umbruch, aber Hedis Leben ist ziemlich gleichgeblieben. Jung und introvertiert erwartet er nicht viel von der Zukunft. Die Entscheidungen treffen sowieso die anderen. So wie seine Mutter, die auch eine Braut für ihn ausgewählt hat. Kurz, bevor er heiraten soll, wird er von seinem Chef nach Mahdia zur Kundenakquise geschickt. Dort lernt er die freigeistige Rim kennen, die als Animateurin in einem Club tätig ist. Hedi ist von der jungen Frau fasziniert – und verliebt sich in sie. Während zuhause Hochzeitsvorbereitungen laufen, muss er erstmals in seinem Leben selbst entscheiden, was er will.
Im Kern geht es darum, dass Hedi sich emanzipiert. Gegenüber seinem Chef, gegenüber seiner Mutter, eigentlich gegenüber allem. Aber er hadert und zögert, ist ein Schluck Wasser in der Kurve und kommt nie in die Gänge. Von ihm geht eine Leere aus, die fast körperlich schmerzhaft ist. Man möchte die Leinwand anschreien, ihn aufwecken, ihm endlich klarmachen, dass er mit seinem Leben etwas machen muss. Oder es wird ihm durch die Finger rinnen und er sich in einem Leben wiederfinden, das er niemals haben wollte und das ihn nicht glücklich macht.
Es ist eine durchaus ungewöhnliche Geschichte, die Attia hier präsentiert, weil er einen solch entmännlichten Mann in den Mittelpunkt rückt, während der kulturelle Hintergrund eigentlich etwas anderes nahelegen sollte – ohne in billige Klischees zu verfallen. Vielleicht soll man Hedi aber auch als eine Art Emanzipationsfilm sehen – mit dem Mann in der Hauptrolle. Nur leider scheitert das Werk dabei an der unendlich tristen Hauptfigur. Im Grunde saugt die Hauptfigur dem Zuschauer – und auch dem Film – das Leben aus. Erst als Rim in sein Leben tritt, erwacht etwas in Hedi. Die Geschichte nimmt plötzlich etwas Fahrt auf, wird dann aber auch wieder ausgebremst. Weil Hedi einfach nicht aus seiner Haut kann. Vielleicht auch, weil die Zwänge, in denen er sich über Jahrzehnte befand, einfach zu viel sind. So oder so, am Ende obsiegt die Tristesse in einem Film, der durchaus interessant ist, der es dem Zuschauer aber nicht leicht macht. Vielleicht nicht der Stoff, den man unbedingt auf der großen Leinwand sehen muss.
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Kommentare
Wir alle sind Suchende
Eine Fülle von Stimmungsregistern offenbaren sich im Gesicht von Hauptdarsteller Hedi –zu Beginn des Filmes eine Art Buster Keaton im postrevolutionären Tunesien- im Verlauf dieses präzise inszenierten und äusserst sehenswerten Filmes. Von stiller Traurigkeit und Melancholie bis zu dramatischem Aufbegehren gegen familiäre Zwänge und Entfremdung. Nur einmal, am Rande eines Friedhofs, wird die anspannte politische Lage nach dem Sturz des Diktators zum Thema: „Sehe ich etwa nicht aus wie ein Revolutionär“ antwortet mehr ironisch, als selbstsicher, Hedi seine Strandliebe Rim auf ihre Frage, ob er bei den grossen Demonstrationen mit dabei war. Dann lachen beide, während sie ihm zärtlich über die sich abzeichnende Glatze streicht.
Fazit: unbedingt hingehen, über die Entwicklung und Reifung des Protagonisten staunen und sich an dieser schlichten cinematographischen Perle über die tunesische Gegenwart erfreuen.… Mehr anzeigen
Ein wirklich gelungener und atmosphärischer Film der ausnahmsweise und glücklicherweise Mal aus der Sicht des Mannes und mit dem Fokus auf seinen Umgang mit der streng rituellen Familienwelt gezeigt wird. Gewann in Berlin den Silbernen Bären für den besten Hauptdarsteller und den First Feature Award - beides zurecht.… Mehr anzeigen
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