Don't Call Me Son Brasilien 2016 – 82min.

Filmkritik

Fatale Familienfindung

Rolf Breiner
Filmkritik: Rolf Breiner

Anna Muylaert, Autorin und Regisseurin, hat eine brasilianische Begebenheit aufgegriffen: Der junge Pierre erfährt, dass seine «Mutter» ihn vor 17 Jahren gestohlen hat. Die leiblichen Eltern haben ihn aufgespürt und möchten ihn in ihre Familie aufnehmen. Das Persönlichkeits- und Identitätsdrama überzeugt, weil es authentisch und von Zuneigung geprägt ist.

Das Leben kann so schön sein, wenn man alle Freiheiten geniesst, wie der 17jährige Pierre. Er, ein androgyner Typ, der zwischen den Geschlechtern pendelt, spielt in einer Band, trägt bisweilen Frauenkleider, schminkt sich gern. Er lebt sich aus. Seine Mutter aus der Arbeiterklasse lässt ihn sein, wie er ist. Sein unbeschwertes Leben wird jedoch umgekrempelt, als Pierre, der eigentlich Felipe heisst, mit der Tatsache konfrontiert wird, dass seine vermeintliche Mutter ihn vor 17 Jahren wie auch seine Schwester gestohlen hat. Seine leiblichen Eltern (Dani Nefusi und Matheus Nachtergaele) haben nie locker gelassen, um ihren verlorenen Sohn zu finden. Nun haben sie scheinbar ihr Glück gefunden und tun alles, um ihren Sohn in die Familie zu integrieren, argwöhnisch beobachtet vom jüngeren «Bruder». Mehr gedrängt und gezwängt als gewollt, lässt sich Pierre/Felipe auf die neue komfortable bürgerliche Situation ein – und rebelliert. Sehr pragmatisch deutet der internationale Filmtitel Don't Call Me Son auf den Kern des Problems hin. Pierres Identität wird infrage gestellt und neu definiert. Naomi Nero verleiht dieser Figur grosse Glaubwürdigkeit, wie der Film überhaupt grosse Authentizität besitzt, unprätentiös und glaubwürdig daherkommt.

Anna Muylaert (52) aus São Paulo hat bereits mit The Second Mother komödiantisches Talent bewiesen. Jetzt inszenierte sie unaufgeregt und intim ein Familien- und Persönlichkeitsdrama, auf wahren Vorfällen beruhend. Es wurde am Filmfestival Berlin in diesem Jahr stark beachtet und plädiert für individuelle Entscheidungen und Identität. Bindungen, Familienstrukturen und -solidarität basieren nicht auf Dokumenten und genetischen Tatsachen – auch das unterstreicht der Film eindrücklich. Gewachsene Gefühle, Zuneigung, Wärme sind weitaus wichtiger und bindender. Eine schöne versöhnliche Geste am Schluss markiert Pierres Entscheidung: Sein leiblicher Bruder Joca (Daniel Botelho) hat Verständnis für ihn. Sie umarmen sich. So wird es manchen Zuschauern ergehen.

10.04.2024

4

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