Rester vertical Frankreich 2016 – 100min.
Filmkritik
Aufrecht bleiben unter Wölfen
Der französische Filmemacher Alain Guiraudie taucht gern in die Natur ein und beschäftigt sich mit Sexualität. So auch in seinem rauen Melodram «Rester vertical – Aufrecht bleiben». Die herbe Landschaft im Languedoc-Roussillon ist der Schauplatz, auf dem sich Empfindungen, Sehnsüchte und Lebensentwürfe von Männern entfalten. Ein Melodram mit traumhaften, märchenhaften Anleihen und unkonventionelle filmische Meditation – wundersam, lustvoll und provokant.
Wölfe heulen. Man sieht sie kaum, und doch sind sie eine ständige Gefahr für Schafe und ihre Hüter. Ein Städter reist mit dem Auto an und streift zu Fuss durch eine herbe Berglandschaft. Léo (Damien Bonnard), Drehbuchautor, ist Wölfen auf die Spur und begegnet der Schäferin Marie (India Hair). Sie bietet ihm an, in ihrem bescheidenen Hof zu übernachten, in dem sie mit ihrem Vater (Raphaël Thierry) lebt. Natürlich kommt es zum Schäferstündchen. Man mag sich, stillt gewisse Sehnsüchte. Marie wird schwanger.
Regisseur Alain Guiraudie und seine Kamerafrau Claire Quainon bleiben dran, hautnah und halten drauf bei der Geburt – ungeniert schamlos wie schon beim Liebesakt zwischen Marie und Léo, bei gerissenen Schafen oder einem getötetem Schäferhund. Krass.
Die Situation: Léo sitzt in der Patsche mit einem Baby, Marie hat das Weite gesucht und ist in die Stadt abgehauen. Er gewinnt Gefallen am Vatersein, richtet sich in der Einöde ein und verschafft dem Greis Marcel (Musikliebhaber von Pink Floyd), einen lustvollen Tod, Aber das ist eine Geschichte für sich.
Guiraudies Melodrama hat etwas Märchenhaftes, Skurriles, Abseitiges. Es ist abgelegen und doch so nah – in einer Sumpf- und Berglandschaft, gleichwohl nicht weit vom Städtchen Séverac. Traum, auch Alptraum und Wirklichkeit wollte der Regisseur verbinden, austauschen, meinte er, die es ihm erlaubten, «klarer zu sehen, den Horizont zu erweitern.» Natur und geschützter Raum, versteckte und gelebte Sehnsüchte, Liebe und Tod – «Rester vertical» ist ein leicht verschrobener, aber im Grundsatz realistischer Film über Einsamkeit der Zweisamkeit, des Mannes, des Wolfes. Und er beschreibt, wie der Wolfssympathisant Léo sich wandelt – vom getriebenen Städter zum verantwortungsbewussten Vater, der sein Kind allein gross ziehen will. Die Mutter hat sich ab vom Mutterdasein abgewandt.
Léo versucht, Gegensätze zu vereinen, eine Utopie zu realisieren – Wolf und Schaf zu versöhnen, alleinerziehenden Vater und Kind zu vereinen, Respekt und Furcht, Liebe und Tod zu überwinden. «Aufrecht bleiben» - das soll man nicht nur bei Begegnungen mit Wölfen, wie man überliefert, sondern überhaupt politisch, menschlich, existentiell meint der Film. Kino abseits vom Gängigen – diskutabel und spannend.
Sie müssen sich zuerst einloggen um Kommentare zu verfassen.
Login & Registrierung