Vor der Morgenröte Österreich, Frankreich, Deutschland 2016 – 106min.

Filmkritik

Abendrot vor der Morgenröte

Rolf Breiner
Filmkritik: Rolf Breiner

Er war im deutschsprachigen Raum einer der angesehensten Schriftsteller seiner Zeit, der Wiener Stefan Zweig jüdischer Abstammung. Vom Naziregime bedroht, floh er 1936 nach Südamerika, verlor Heimat und Nährboden. Maria Schrader beschreibt seine letzten Lebensjahre mit viel Einfühlungsvermögen und Dichte in ihrem tiefsinnigen Spielfilm.

Er sei ein «Jude aus Zufall», meint Stefan Zweig trocken und wurde wie viele andere Zeitgenossen und –genossinnen Opfer des Nazi-Regimes. Der Wiener Stefan Zweig ging 1934 nach London, dann nach Südamerika. Der im deutschsprachigen Raum gefeierte Schriftsteller, damals 54 Jahre alt, wird in Rio de Janeiro 1936 wie ein Staatsmann behandelt. Mit dieser Episode im exklusiven Jockey Club beginnt Maria Schraders Spielfilm Vor der Morgenröte. Bereits in diesem Prolog legt die Regisseurin (Liebesleben, 2007) in ihrem zweiten eigenen Spielfilm den Kern der Problematik um Exilanten und Heimat, Fremde und Ferne. Stefan Zweig, dessen Heimat die deutsche Sprache ist, fühlt sich verloren, abgenabelt und vereinsamt – trotz intellektuellem Umfeld, brasilianischer Sympathie und liebevoller Umsorgung durch seine zweite Ehefrau Lotte (Aenne Schwarz). Zweig möchte sich am liebsten von den politischen Stürmen und Umwälzungen distanzieren. Doch sein Standpunkt, Politik und Kunst, also auch Literatur, zu trennen, findet wenig Verständnis. Zweig will sich nicht vereinnahmen lassen. Das zeigt sich frappant am Pen-Kongress in Buenos Aires 1936. Er will sich nicht öffentlich positionieren und ein eindeutiges Statement gegen Hitlers Faschismus abgeben – im Gegensatz zu Emil Ludwig (Charly Hübner), der eine Brandrede gegen Nazi-Deutschland hält.

Maria Schrader (Regie und Buch mit Jan Schomburg) beschreibt in vier Kapiteln (Episoden) plus Epilog die letzten Lebensjahre des entwurzelten Österreichers. Die Exiljahre bis 1942 setzen ihm zu, verstärken seine Depressionen angesichts der Hilflosigkeit gegenüber Menschverfolgung, faschistischer Kriegstreiber und unzähliger Opfer.

Zweig möchte sich eigentlich abschotten, kann sich aber nicht in ein Schneckenhaus zurückziehen. Das zeigt besonders die Begegnung zwischen Zweig und seiner ersten Frau Friderike (Barbara Sukowa), die ihn bittet, Exilanten zu helfen, sich namentlich für sie einzusetzen.

Sachlich, fast emotionslos bringt Maria Schrader das Dilemma des Flüchtling Stefan Zweig auf den Punkt: Er verzweifelt an seiner Zeit, seinem Schicksal, seiner Ohnmacht. Die Filmautorin versucht punktuell, die Problematik des Einzelnen mit den gesellschaftlichen Umtrieben und Zwängen aufzuzeigen – sehr intim, einfühlsam und eindringlich in Momentaufnahmen. Kein konventionelles Biopic, sondern Zeitbild, das durchaus aktuell ist angesichts heutiger Flüchtlingsproblematik. Man hätte es ihm (fast) nicht zugetraut, doch der kantige, bisweilen schrullige Josef Hader, Kabarettist, Schauspieler, Regisseur, überzeugt vollends als verzweifelnder Zweig. Abendrot vor Morgenröte (der Filmtitel bezieht sich auf Zweigs Abschiedsbrief): Ein intensiver leiser Spielfilm mit hintergründigem Gehalt und Poesie – die Schweizer Premiere findet am 9. August auf der Piazza Grande in Locarno statt.

10.04.2024

5

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