The Sun, the Sun Blinded Me Polen, Schweiz 2016 – 74min.
Filmkritik
Geblendet
In Albert Camus' berühmtesten Roman "L’Étranger" ist Meursault ein Einzelgänger, von der Gesellschaft weder wahrgenommen noch verstanden. Er hat sich ihr schon längst entzogen, lebt als Fremder unter vielen nach seinen eigenen Regeln, fast erstaunt darüber, dass von ihm erwartet wird sich an sie zu halten. Sein Maßstab sind niemals die anderen, jede Entscheidung ist seine eigene – das ist bis zu einem gewissen Punkt möglich, jedoch nicht mehr, wenn Gesetze übertreten werden.
Die polnische Filmemacherin Anka Sasnal hat aus dieser Erzählung ein Gedicht geschrieben und es gemeinsam mit ihrem Ehemann Wilhelm Sasnal verfilmt. In The Sun, the Sun blinded me geben sie Camus' Geschichte ein markantes Gesicht: Rafał Maćkowiak als Rafał Mularz ist groß, dünn, hat mittellanges, schmieriges Haar, meist nach hinten gekämmt, sehr helle Haut und stechend blaue Augen. Immer wieder blicken sie in die Kamera, als diese ihn beim Joggen am Strand verfolgt. Es ist, als wäre er auf der Flucht vor etwas Unbekanntem: Mularz scheint Angst zu haben, vor der Kamera selbst, der Person dahinter, und vor jedem Kontakt mit Menschen, die sich ihm aufdrängen könnten. Genau das aber geschieht: Ein Mann taucht am Strand auf, geflüchtet aus einem anderen Land. Rafał nimmt ihn bei sich auf, wie es sonst keiner macht. Sie sprechen nicht miteinander, aber sein stummer Begleiter weicht Rafał nicht mehr von der Seite, sieht ihm beim Schlafen zu, rennt ihm hinterher. In der gleißenden Sonne kommt es am Strand zur Auseinandersetzung: Der Unbekannte zückt ein Messer, und Rafał schlägt besinnungslos zu. Im Gerichtssaal wird er später erklären: "Die Sonne, die Sonne hat mich geblendet."
Ein großer Teil des Films findet in extremen Nahaufnahmen statt, Rafałs erweitertes Umfeld ist meist unscharf, da er es selbst nicht wahrnimmt. Verständnis für den Protagonisten will und soll sich nicht einstellen, er bleibt so rätselhaft wie unnahbar. Das Bild, das sich motivisch durch den gesamten Film zieht: Der Fremde rennt durch Straße, Wald und Sand, er flieht. Das Gehetzte in seinem Blick und Körper verraten seine Angst vor der Berührung mit Menschen, die seine Existenz nur aufs Neue bestätigen oder hinterfragen würden. Maćkowiak, dem exzellenten Hauptdarsteller, steht die Skepsis ins Gesicht geschrieben, wenn er morgens die Augen öffnet, und immer wieder enttäuscht wirkt, einmal mehr aufgewacht zu sein.
Vor Gericht, Rafałs Anhörung nach dem Mord: In einem bedrückenden Stakkato aufeinanderfolgender Nahaufnahmen von aussagenden polnischen Bürgern, das sich bald nur noch auf deren Münder konzentriert, sprudeln aus diesen xenophobe und rassistische Gemeinplätze, wie man sie zunehmend in Onlinekommentaren zu den Themen Immigration und Integration findet. Dass Flüchtlinge in Polen unwillkommen sind, ist kein Geheimnis. Figuren wie der Hausmeister oder Rafałs Freunde sprechen ganz selbstverständlich alle vorstellbaren Vorurteile gegenüber Schwarzen, Juden und Arabern aus. Camus' Erzählung, der schon ihrerzeit Rassismus vorgeworfen wurde, ist heute erschreckend zeitgemäß. Der Film bringt die desolate politische Situation im heutigen Polen und seine verstörenden Charaktere in eine brillante experimentelle Form, die den Zuseher mit der eigenen Gleichgültigkeit konfrontiert - und so zum Aufbegehren aufruft.
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