Ni juge, ni soumise Belgien, Frankreich 2017 – 99min.
Filmkritik
Schräger als Fiktion
Wer Anne Gruwez in ihrem alten, hellblauen Deux Chevaux zum Radetzky-Marsch durch Brüssel fahren sieht, würde wohl eher an eine schrullige Zeichnungslehrerin denken als an eine taffe Untersuchungsrichterin. Doch was Gruwez in ihrem Arbeitsalltag alles erlebt, ist im wahrsten Sinne schräger als Fiktion.
Wenn ein Gespräch mit einer Prostituierten in eine Diskussion über sadomasochistische Praktiken ausartet oder die Untersuchungsrichterin einer Familie zunächst erklären muss, dass Inzest in erster Linie verboten und – noch viel wichtiger – zu bleibenden Schäden führen kann, wähnt man sich im falschen Film. Dabei ist Film noch der falsche Begriff, denn mit was es Anne Gruwez in ihrem Arbeitsalltag zu tun bekommt, ist nicht Fiktion, sondern die bittere Realität. Im Rahmen ihres ersten langen Kinofilms haben Jean Libon und Yves Hinant, die Macher der belgischen Kultserie «Strip-Tease», die Untersuchungsrichterin während drei Jahren begleitet.
Dabei ist eine beobachtende Dokumentation herausgekommen, die gänzlich ohne Off-Kommentare und Interviews auskommt. Als roter Faden führt die Wiederaufnahme eines ungeklärten Mordes an zwei Prostituierten aus den 1990er-Jahren durch den Film. Das Kernstück der Doku sind jedoch die Gespräche von Gruwez mit verschiedenen Delinquenten, denen sie sich in ihrer ganz eigenen Manier annimmt. Selbst schlimmsten Schicksalen begegnet die exzentrische Richterin mit ihrem trockenen Humor und ihrer forschen, direkten Art. Sie ist ein Farbtupfer im sonst so grauen Justizalltag, da sie ihren “Klienten” wie Gruwez sie nennt, immer auch eine grosse Portion Menschlichkeit entgegenbringt: Sie belehrt, bemuttert und verschafft sich auch bei gestandenen Kriminellen Respekt. Dabei hat man stets das Gefühl, dass Gruwez nichts mehr schocken kann.
Dass ein Dokumentarfilm, der “nur” von Beobachtungen aus dem echten Leben gespeist wird, solche absurden Züge annimmt, ist selten. Ni juge, ni soumise macht es möglich: Der Film lässt für Otto Normalbürger teils völlig skurrile und grausame Stories mit solch einer Selbstverständlichkeit und Ruhe für sich stehen, dass man manchmal sogar an der Echtheit der Dokumentation zu zweifeln beginnt. Wenn Realität schräger ist als Fiktion, dann in diesem Film. Das ist auch der Verdienst von Anne Gruwez, die mit ihrer Eigenart für teils surreale Szenen sorgt: Wenn sie mit ihrem pinken Sonnenschirm und Rucksäckchen vor einer exhumierten Leiche steht, ist dies einfach nur ein groteskes Bild. Das Konzept des Films verunmöglicht es jedoch, hinter die Fassade der Richterin zu blicken, und ihr persönliche Geständnisse zu entlocken – dies ist es aber vielleicht gerade das, was den Reiz an Ni juge, ni soumise ausmacht.
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