Im Spiegel Schweiz 2018 – 83min.
Filmkritik
Entwurzelt, unbehaust, heimatlos
Sie leben am Rande der Gesellschaft, sozusagen im Verborgenen. Die Baslerin Anna Tschannen hat diesen Menschen den Spiegel vorgehalten beim Frisieren. Menschen, die aus der Bahn geworfen und obdachlos wurden. Ein Zeitbild der anderen Art, der anderen Seite.
In ihrem ambulanten Coiffeursalon in Basel empfängt Anna Tschannen seit über zwölf Jahren Menschen, die zu Aussenseitern wurden. Sie existieren am Rande der Gesellschaft, heissen Urs, Markus, Aaroldt oder Lilian. Sie leben auf der Strasse, unter Brücken, nächtigen oft in Notschlafstellen und schlagen sich irgendwie durch. Aus verschiedenen Gründen haben sie den Halt, ihr soziales Umfeld und ihre materielle Grundlage verloren. Der bärtige Urs war Gärtner, scherte aus, wurde obdachlos und versucht eine Zeit lang sein Glück in Kamerun beim Anbau von Erdnuss und Bohnen. Krank kehrt er nach Basel zurück und rappelt sich wieder auf.
Im doppelten Sinn hält Anna Tschannen ihren Kunden den Spiegel vor. Während sie die Haare schneidet, reflektieren die entwurzelten Menschen, erzählen aus ihrem Leben im Verborgenen, stellen sich der Realität und schöpfen Hoffnung. Sie ringen um Selbständigkeit und Würde. Und manchmal werden Wünschen Wirklichkeit. Mit ihren Geschichten und Schicksalen zeichnen sie auch einen Teil der Gesellschaft, den man gern übersieht, verdrängt oder verschweigt.
Coiffeuse Anna Tscharnen ist auf den Filmer Matthias Affolter (Berge im Kopf) zugekommen und hat ihm von ihren Erlebnissen und Erfahrungen mit Menschen berichtet, die durchs Netz gefallen sind. Eine spannende Situation, fand der Basler Affolter, "in der sich Menschen vor dem Spiegel auf eine Veränderung einlassen. Durch die Annäherungen und Berührungen beim Haareschneiden finden Begegnungen statt, die auch Einfluss darauf haben können, wie sich Personen selber wahrnehmen."
Wie gehen Menschen mit Krisen um, die sie zu Fall bringen – nach einem Verlust, einer Fehlspekulation, einer Kündigung, einer Trennung, einem Unfall? Auch davon handelt der Dokumentarfilm Im Spiegel, der eben nicht nur den Spiegel vorhält, Bilanz zieht oder eine Situation widerspiegelt. "Der Obdachlosigkeit", so die Co-Autorin und Protagonistin Anna Tschannen, "geht häufig eine innere Heimatlosigkeit voraus. Der englische Ausdruck 'homeless' trifft es am besten, es sind Menschen, die kein Zuhause haben." Ein menschliches Zeitbild der anderen Art, der anderen Seite.
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