Je ne te voyais pas Schweiz 2018 – 75min.
Filmkritik
Vermittlung statt Bestrafung
Verständnis wecken und die eigene Würde wiedererlangen – zwei der wichtigsten Ziele der restaurativen Justiz. Was genau verbirgt sich noch dahinter? Wo liegen die Chance, wo die Gefahren, wenn Straftäter und Betroffene direkt aufeinandertreffen? Die Doku „Je ne te voyais pas“ gibt Antworten, in dem sie sich ausführlich und hintergründig der Funktionsweise dieses komplexen „Konfliktmanagements“ widmet.
Im Bereich der restaurativen Justiz fällt die Schweiz im Vergleich zu anderen Staaten, etwa Belgien und England, zwar zurück, dennoch ist sie in Ansätzen vorhanden. Regisseur François Kohler begleitet die komplizierte Annäherung zwischen Opfern, die versuchen, ihr Leben neu zu ordnen, und Tätern, die Verantwortung übernehmen wollen. Dafür reiste er unter anderem in die belgische Region Wallonie.
Wie positiv sich dieses (moderne) Verständnis von Konfliktmanagement auswirken kann und welche immensen Vorteile es bietet, macht Kohler nachhaltig deutlich. Er nimmt sich Zeit und spricht zunächst ausgiebig mit den jeweiligen Parteien. Etwa mit einem jungen Mann, dessen Kiefer bei einem Gewaltverbrechen zertrümmert wurde.
Im Gespräch mit seinem Vater lässt er das Geschehene Revue passieren. Wenig später äussert sich der Täter, der die Tragweite mittlerweile erkannt hat („Ich habe sein Leben und seine Träume zerstört“). Dann kommt es zum Aufeinandertreffen. In geschütztem Rahmen, begleitet von professionellen Vermittlern. Schnell offenbart sich, dass das gemeinsame Suchen nach Lösungen der richtige Weg ist. Denn beide, Täter und Opfer, haben ein Ziel: Das Opfer möchte mit dem Erlebten abschliessen, der Täter das Geschehene restlich aufarbeiten.
Ein Vergewaltigungsopfer, das im Rahmen des Mediationsverfahrens auf den Täter trifft, bringt es an anderer Stelle auf den Punkt. „Ich konnte Verständnis entwickeln und mir wurde klar, dass ich selber keine Schuld trage.“ Dass sich die Interviewten so freimütig sowie geradeheraus äussern und Kohler an ihren inneren Befindlichkeiten teilhaben lassen, liegt am Vertrauen, das die Interviewten zum Regisseur gefasst haben. Er lässt seine Gesprächspartner gewähren, unterbricht nicht und hält sich angenehm zurück.
Zudem erzeugt die Doku Nähe und Intimität zu den Protagonisten, da Kohler sie in ihrem privaten Raum und Alltag beobachtet. Etwa einen 46-jährigen Häftling, der 1980 selbst Opfer wurde. Seine Mutter wurde getötet als er ein Kind war. Nun trifft er auf den Schuldigen. „Je ne te voyais pas“ präsentiert geduldig die Sichtweisen beider Männer. In Einzelgesprächen mit einer Mediatorin erfährt der Zuschauer die jeweiligen Erwartungen und Ängste, die mit der direkten Konfrontation verbunden sind. Ohne zu verurteilen oder dem Kinobesucher eine Meinung aufdrängen zu wollen.
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