Santiago, Italia Chile, Frankreich, Italien 2018 – 80min.
Filmkritik
Eine Geschichtslektion – von gestern für heute
1973 endete ein Traum in Chile. Präsident Salvador Allende und seine sozialistische Regierung wurden vom Militär gestürzt. Es setzte eine unerbittliche Jagd auf Anhänger ein. Filmer Nanni Moretti hat Chilenen und Zeitzeugen befragt, die damals flüchtenden Chilenen geholfen haben. Ein mahnendes Dokument für heute.
Im Oktober 1970 wurde der Sozialist Salvador Allende im Nationalkongress zum Präsident Chiles gewählt. Allende führte die Politik seines Vorgängers Eduardo Frei Montalvas weiter, der bereits eingreifende Reformen durchgeführt hatte – wie beispielsweise die Verstaatlichung der Kupferwerke. Dazu kamen eine umfassende Agrarreform sowie teilweise Verstaatlichung von Banken und Industriebetrieben. Die Lage verschärfte sich 1972. Anfang 1973 wurden Parlamentswahlen durchgeführt. Die Unidad Popular (UP) erreichte 44 Prozent (67 von 150 Sitzen). Die politische Konfrontation eskalierte. Im August berief Allende die Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte ins Kabinett. Wenige Wochen später traten sie zurück, aufgrund eines Antrages des Kongresses. Im Morgengrauen des 11. Septembers 1973 begann der Militärputsch. Der Präsidentenpalast La Moneda wurde bombardiert und Allende tot aufgefunden – mit einer Schusswunde im Kopf. Selbstmord oder Mord?
Chile war vielen Staaten wie den USA ein Dorn im Auge. Man fürchtete kubanische Verhältnisse à la Fidel Castro. Mit dem Ende der demokratisch gewählten Allende-Regierung beginnt der Dokumentarfilm Santiago, Italia. Nanni Moretti, bestens auch als Schauspieler (Padre Patrone, Habemus Papam) bekannt, ist in Archive gestiegen und hat Zeitzeugen aufgesucht. Botschaftsangehörige und flüchtende Chilenen schildern, wie sie die erste Zeit unter General Augusto Pinochet erlebt haben, der Chile in ein Gefängnis und eine Diktatur verwandelte. Allende-Anhänger wurden verfolgt, interniert, exekutiert oder verschwanden spurlos. Eine Insel der Hoffnung war die italienische Botschaft in Santiago. Hunderte fanden hier Unterschlupf vor dem Pinochet-Regime. Eine Zeugin erzählt, wie ihr Herz heute für zwei Länder schlägt, für Chile als Mutterland und Italien als das Land, wo sie heimisch geworden ist.
Die italienische Diplomatie spielt dabei eine vorbildliche Rolle – gegen allgemeine politische Strömungen in den USA, in Europa. Wohl auch, weil die kommunistischen Kräfte in Italien dazumal stark waren. Morettis Dokumentation, die vor allem von den berührenden Aussagen der Zeitzeugen lebt, blickt aber nicht nur zurück, sondern zieht auch Fäden zur heutigen Flüchtlingssituation in Italien. Teilweise sind harsche kritische Statements zum heutigen Italien zu hören. Von einstiger Flüchtlingssolidarität ist heutzutage nicht viel übrig geblieben.
Morettis Filmdokument ruft Ereignisse in Erinnerung, die einer jüngeren Generation weniger bekannt sein dürften – filmisch gesehen geschieht das zwar simpel im Stile einer Fernsehreportage, inhaltlich ist dieses jedoch erst recht von Bedeutung. Der Filmer, einige Protagonisten und manche Zuschauer dürften sich fragen: Und heute? Italien, so die Antwort, ist ein anderes Land geworden und gegenüber Flüchtlingen, aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen, sehr distanziert und kritisch. Dieser Aspekt ist einer der wichtigsten Gründe, diese Geschichtslektion aufmerksam zu verfolgen.
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