Sauvage Frankreich 2018 – 99min.

Filmkritik

Die kleine Freiheit am Rande der Strasse

Irene Genhart
Filmkritik: Irene Genhart

Camille Vidal-Naquets Drama über das Leben eines 22-jährigen Strichers überzeugt durch seine unmittelbare Inszenierung ebenso wie durch das intensive Spiel seines Hauptdarstellers.

Es beginnt in einer Arztpraxis: Ein junger Mann, Léo, schildert seine Beschwerden. Der Arzt beginnt ihn zu untersuchen. Léo zieht sich aus, legt sich auf die Liege. Der Arzt tastet seinen Bauch ab, zieht Léo den Slip aus. Dann beginnt er Léo zu massieren, so wie es ein Arzt nicht tut. Erst hier eröffnet sich dem Zuschauer, dass er zu Beginn von Camille Vidal-Naquets Spielfilm keine Arzt-, sondern eine Sexszene sieht. Der Freier hat die Praxis gemietet und gibt sich als Arzt aus. Léo – er wird körperlich intensiv gespielt von Félix Maritaud – spielt sich selber: Einen 22-Jährigen, gezeichnet vom Leben am Rande der Gesellschaft, er steht tagsüber als Stricher an einer Ausfahrtsstrasse von Strassburg, die Abende verbringt er in einschlägigen Clubs; wenn er Glück hat, lässt der letzte Kunde ihn bei sich übernachten.

Es ist dies ein körperlich und psychisch hartes Leben: Obwohl die Sexarbeiter aufeinander aufpassen, sich gegenseitig vor brutalen Kunden warnen und in Not einander beispringen, sind sie letztlich Konkurrenten. Und wenn es arg kommt, wird Léo selbst von Ahd im Stich gelassen, mit dem er manchmal die Kunden teilt und in den er heimlich verliebt ist. Doch Ahd ist nicht schwul, und er träumt vom Ausstieg.

Überhaupt ist Léo anders als die meisten anderen Stricher. Er mag Sex mit Männern, lässt sich auf Kundenwünsche ein, hat nichts gegen Küsse und kann auch nur kuscheln. Und er zieht die Freiheit der Strasse – als Vorlage für seinen Film nennt Vidal-Naquet Sans toit ni loi von Agnès Varda – einer gesicherten Existenz vor.

Dies, obwohl er dafür bitter bezahlt, bisweilen brutal malträtiert wird, manchmal ganze Nächte auf der Strasse verbringt, sich oft kein Essen kaufen kann, sich kaum pflegt, und die richtige Ärztin bei ihm nicht nur diverse Blessuren feststellt, sondern auch Tuberkulose diagnostiziert.

Vidal-Naquet hat seinen Film realitätsnah inszeniert und das Geschehen mit hektischer Handkamera festgehalten. Doch er bricht den an die Filme der Dardenne-Brüder gemahnenden Realismus auch immer wieder auf. Und sowohl in den von harten Beats unterlegten Tanzszenen wie in den ruhigen Momenten, in welchen die Stricher gemeinsam chillen oder verspielt miteinander balgen, oder auch wenn Léo zwischendurch selbstvergessen einem Flieger nachträumt, blitzt ein Augenblick lang die titelgebend wilde Freiheit auf, die dieses Leben auf der Strasse lebenswert macht.

06.05.2019

4.5

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Kommentare

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thomasmarkus

vor 5 Jahren

Auch er habe das Recht geliebt zu werden, wird ihm gesagt, ob und wie es passiert, sei hier nicht verraten. Nur, dass man am Schluss fast nicht glauben möchte, was passiert, und erleichtert wie ungläubig zugleich würde. Drei ganz unterschiedliche Arztszenen geben dem Film wie eine innere Dramaturgie; und: Geschichten aus dem Leben sind ganz andere Geschichten als die erfundenen, absehbaren Superhelden-Stories...Mehr anzeigen


julianne

vor 5 Jahren

Meine Güte etwas vom allerbesten und ich habe wirklich viele gay Movies gesehen ! Es zeigt die kranke Welt und die gay Szene so real ! Sensationell und so grässlich zugleich !! Könnte kaum glauben was ich zum Teil sah ! Hammer Hauptdarsteller


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