Ask Dr. Ruth USA 2019 – 100min.
Filmkritik
Klein, aber oho
HIV, Erektionsstörungen, die besten Sexstellungen: Es gibt für Ruth Westheimer kein Thema, das sie nicht vor laufender Kamera mit viel Sachwissen und genauso viel Einfühlungsvermögen und Respekt behandelt hätte – und das in den 80er-Jahren in den USA, als man das Wort mit den drei Buchstaben sich kaum in den Mund zu nehmen getraute. Ryan White fühlt in seiner biographischen Doku Dr. Ruth auf den Zahn, die auch abseits von ihrem Dasein als Popikone ein bewegendes Leben hatte.
Bekannt wurde sie in den 80er-Jahren als Dr. Ruth, zunächst mit der Sendung «Sexually Speaking» im amerikanischen Radio, danach auch im Fernsehen: Mit ihren unverblümten, zur damaligen Zeit beinahe skandalösen Ratschlägen rund um das Thema Sex entwickelte sich die nur 1.40 grosse, quirlige Frau zur weltweiten Popikone. Doch auch abseits von ihrer öffentlichen Person hat Karola Siebert, so ihr ursprünglicher Name, einiges zu erzählen: Über ihre schwierige Kindheit als orthodoxe deutsche Jüdin während dem Zweiten Weltkrieg, die Zeit als Untergrundkämpferin in Palästina oder ihre drei Ehen, von welchen die letzte bis zum Tod des Ehemanns gehalten hat.
Mit Archivmaterial, aktuellen Interviews mit Ruth Westheimers Umfeld von der Enkelin bis zum Assistenten und ihren eigenen Erzählungen, die dank animierten Szenen zum Leben erweckt werden und von ihren Erlebnissen als Kind und Jugendliche in der Schweiz und in Palästina zeugen, stellt Regisseur Ryan White ein umfassendes Porträt der heute 91-Jährigen zusammen, die – wie auch in der Doku eindrücklich zu sehen – noch immer Kurse an Universitäten gibt, in Talkshows auftritt und für Benefizveranstaltungen zu haben ist.
Einen Off-Kommentar gibt es dabei nicht, im Fokus steht der Aufhänger von Ask Dr. Ruth – weshalb es mit Ruth Westheimer auf Reise geht, zum Beispiel nach Heiden, wo sie einen grossen Teil ihrer Kindheit verbracht hat, oder zu einem Holocaust-Memorial, wo die umtriebige Frau zum ersten Mal definitiv über den Verbleib ihrer Eltern im Zweiten Weltkrieg aufgeklärt wird – einer der emotionalen Momente des Films.
Bewegend sind aber auch viele weitere Momente – was vor allem Ruth Westheimer selbst zu verdanken ist, die trotz etlicher Schicksalsschläge einen bewundernswerten Respekt ihren Mitmenschen gegenüber, einen zu beneidenden Optimismus und einen trockenen jüdischen Humor an den Tag legt, der nicht selten in äusserst witzigen Szenen mündet. Das verleiht dem Film eine für das Genre ungewöhnliche Unterhaltsamkeit.
Zugute zu halten ist Ask Dr. Ruth dabei, dass er nicht verklärend oder allzu dramatisierend zurückblickt auf das bewegte Leben der 91-Jährigen, sondern die wahre Persönlichkeit mit ihren Hochs und Tiefs hinter der Popikone zeigt. Das liegt auch an Ruth Westheimer selbst, die in den Interviews offen und ehrlich über ihre ambivalente Kindheit in einem Schweizer Heim spricht, zugibt, wieso ihre ersten zwei Ehen gescheitert sind, beteuert, dass es als alleinerziehende Mutter alles andere als leicht war.
Ruhestand gäbe es für sie nicht, sagt Ruth Westheimer einmal im Film. Nach den rund 100 Minuten mit der lebensklugen, quirligen, winzig kleinen Frau, die nichtsdestotrotz den Raum einzunehmen vermag sobald sie ihn betritt, kann man sich das auch fast nicht vorstellen: Nicht nur spürt man bei der 91-Jährigen in der Doku auch heute noch eine unfassbare Power, es wäre auch einfach grundlegend schade, eine solch schillernde Persönlichkeit nicht mehr in der Öffentlichkeit zu wissen, die ihrer Zeit stets ein wenig voraus war.
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