Instinct Niederlande 2019 – 99min.
Filmkritik
Das Monster, das wir in uns tragen
Die niederländische Regisseurin Halina Reijn feierte in Locarno die Weltpremiere ihres Erstlings Instinct. Mit dem intensiven Thriller setzt sie ein Statement für komplexere Frauenrollen im europäischen Kino.
Frau und Mann sitzen sich gegenüber. Sie mustern sich. «Warum bist du hier?», fragt sie. «Das ist kein Thema», sagt er und zögert kurz, «das man beim ersten Date aufbringen sollte.» Im Spielfilmdebüt der niederländischen Schauspielerin und Regisseurin Halina Reijn geht es nicht um Liebe, sondern um Macht und Manipulation. Als Psychiaterin mit besten Referenzen tritt Nicoline (Carice van Houten, «Game of Thrones») ihre neue Stelle in einer Strafanstalt an. Hier soll sie Idris (Marwan Kenzari) betreuen, einen Sexualverbrecher, der kurz vor der Entlassung steht. Von da an trägt sie einen inneren Kampf aus zwischen Verlangen und Vernunft.
Im Traum steht Nicoline einem Hund gegenüber. Seine Muskeln vibrieren unter dem glänzend braunen Fell, als er sich auf ihrem Bett aufrichtet. Wie hypnotisiert geht sie auf das Tier zu, Auge in Auge, Nase an Schnauze. Wieso, so fragt man sich, fühlt sich Nicoline von jemandem angezogen, der ihr so gefährlich werden kann? Die Stärke des Films liegt darin, dass er darauf keine Antwort bereithält. Nicht jede menschliche Regung lässt sich nachvollziehen, manche unserer intimsten Wünsche und Neigungen können wir uns selbst nicht ganz erklären.
Keine der Figuren in Instinct ist eindeutig. Die Regisseurin konfrontiert uns nicht nur mit dem zugleich anziehenden wie abstossenden Idris, sie blättert auch eine vielschichtige, teils düstere Frauenfigur vor uns auf. Nicoline ist zutiefst verletzlich in ihrer Einsamkeit, doch keineswegs schwach. Schon in der allerersten Szene stellt sie sich bei einer Übungseinheit ganz physisch einem ganzen Trupp von Gefängniswärtern in Vollmontur entgegen, und auch unter der Manipulation ihres Patienten Idris wird sie nie zum Opfer.
Es sei eine herausfordernde Rolle gewesen, sagte Carice van Houten in Locarno. Derart komplexe Figuren sind für Frauen noch immer seltener als für Männer. «Darüber kann man sich beklagen», ergänzt Halina Rejn, «oder man ändert die Situation». Um mehr weibliche Perspektiven auf die Leinwand zu bringen, gründeten die beiden langjährigen Freundinnen eine eigene Produktionsfirma, mit der sie nun Instinct realisiert haben.
Es ist ein vergleichsweise düsterer Film für die Piazza Grande. Das konzentrierte Spiel zwischen der Psychiaterin und dem Sexualverbrecher wirkt umso kräftiger in der geradezu klinischen Ausstattung der Szenen: Tisch, Stuhl, Ledersofa sind farblose Requisiten, die Platz für Projektionen lassen. In den Schärfeverlagerungen verschwimmt Vorder- und Hintergründiges, Bewusstes und Unbewusstes. Die Figuren spielen mit dem Risiko, der Grenzüberschreitung. Bei einem Spaziergang am Meer zeichnet Idris eine Linie zwischen sich und Nicoline in den Sand – nur um sie sogleich zu verwischen. Instinct ist ein kontroverser Film, der Grauzonen abtastet und in die Tiefen menschlichen Begehrens dringt.
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