Madame Schweiz 2019 – 94min.
Filmkritik
Wie die Oma, so der Enkel
Der Journalist, Filmemacher, Schwulenaktivist Stéphane Riethauser spürt radikal ehrlich und sehr humorvoll der Beziehung zu seiner Grossmutter nach.
Ein filmischer Brief an die vor 15 Jahren verschiedene Grossmutter. Eine intime Auseinandersetzung, in welcher der Regisseur in Bild und Ton so gegenwärtig ist wie seine Protagonistin, und zur Sprache kommt, worüber zu deren Lebenszeit nicht gesprochen wurde: Über ihre schwierige Beziehung zu Männern, und seine Schwierigkeiten in Beziehungen zu Frauen; über Sexualität, Liebe und Geschlechtlichkeit.
Die der Oma, Carolina della Buffa, in den 1910ern in Carouge geboren. Tochter eines Wäschereibesitzers, der man die höhere Schule verwehrte, die Klavierstunden vorenthielt und das Lesen verbot. 15-jährig wurde della Buffa in die erste Ehe gezwungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg liess sie sich von ihrem zweiten Mann scheiden, ihre Kinder zog sie alleine auf. Sie habe zeitlebens kein Glück in der Liebe, aber Erfolg gehabt, sagt sie später. Tatsächlich hat sich hochgekämpft: von der Friseuse zur wohlsituierten Geschäftsfrau.Doch sie war nicht nur tüchtig, sondern auch künstlerisch begabt. Entdeckte als 30-Jährige die Schauspielerei für sich, begann mit 83 zu malen. Wenn sie keine Kinder gehabt hätte, sagt sie im Gespräch mit ihrem Enkel, wäre sie wohl Künstlerin geworden, meint aber auch, dass sie die Freiheit ihres Geistes und des Herzens über alles geniesse. Diese Freiheit, sagt Stéphane Riethauser gegen Ende des Films, fühle er heute ganz ähnlich. Doch sein Weg dahin war nicht einfach.
1972 geboren, wuchs Riethauser in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Er wurde gefördert, besuchte die besten Schulen, studierte in den USA. Aber er spürte immer auch die hohen Erwartungen, die man in ihn als Nachkommen setzte. „Ich hatte Angst kein richtiger Mann zu sein“, sagt er im Film, und dass er jahrelang ein Doppelleben führte. Dies vorerst nicht einmal bewusst: Was sich in dem aus einer reichen Fülle von Homemovies, Fotos, Tagebüchern, schriftlicher Korrespondenz, Telefon-Nachrichten und mit Oma geführten Interviews schöpfenden Film locker als Hinweis auf eine homosexuelle Identität lesen lässt, wird von Riethauser und seiner Umgebung als solche lange nicht erkannt.
Das Comingout ist für Riethauser dann eine Befreiung, für die Angehörigen aber – gerade auch für die von ihm heissgeliebte, aber eben auch sehr strenge Oma – ein Schock, dessen Überwindung der in seiner Intimität und humorvollen Leichtigkeit bewundernswert ehrliche Film dem Zuschauer nicht vorenthält. Stark.
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