Nach Dem Sturm Schweiz 2019 – 120min.
Filmkritik
Die Kunst zum (kulturpolitischen) Kompromiss
Beat Bieri und Jörg Huwyler zeigen auf, wie sich in den Nachwehen der 1968er-Revolte in der Zentralschweiz die Gesinnung zu wandeln begann.
Mit einem einzigen Ereignis, der sogenannten „Krawallnacht“, schreibt sich Luzern in der Geschichte der 1968-Unruhen ein: Nachdem einige Tage davor ein 23-Jähriger in einer Arrestzelle der Luzerner Hauptwache vermeintlich an Polizeigewalt gestorben war, schlug in einer frühen Januarnacht 1969 die seit einigen Wochen angeheizte Stimmung plötzlich um. Derweil sich rund 125 Polizisten in der Hauptwache verschanzten, versammelten sich davor zwei-, dreihundert „Halbstarke“. Es gab einigen Tumult und einige heftige Szenen, bis Stadtpräsident H.R. Meyer kurz nach ein Uhr schliesslich die Feuerwehr mit dem Schlauchwagen auffahren liess.
In der Folge besorgte sich die Polizei nach dem Vorbild von Zürich Helme, Schilder, Wasserwerfer – und fortan hatte man es in Luzern einigermassen in Griff. Doch der Funke von 1968 war in der Innerschweiz angekommen; im April 1969 eskalierte im Chäslager Stans das avantgardistische „Wiener Festival“ zum Kulturskandal, in Andermatt forderten Linke plötzlich die Abschaffung der Armee, und in den streng katholischen Klosterschulen von Einsiedeln und Sarnen entdeckten 15- und 16-Jährige Lenin und Marx und begannen sich zu radikalisieren.
Nichts als Angst hätten sie als frischgebackene Polizisten in der „Krawallnacht“ in der Wache eingeschlossen gehabt, wissen Jules Bucher und Heiri Hüsler heute zu berichten. Sie sind zusammen mit dem Otti Frey, der damals als einer der Wortführer vor der Wache stand und später in Luzern diverse linksorientierte Vereinigungen mitgründete, die Leitfiguren dieses Films, in dem Beat Bieri und Jörg Huwyler sorgfältig nachzeichnen, wie das Gedankengut von 1968 die Gesinnung, und damit auch die Kultur und Politik im Laufe der Jahre veränderte. Als es Anfang der 1980er wieder unruhig wurde, vermachte H.R. Meyers Nachfolger Franz Kurzmeier den Aufbegehrenden das stillgelegte Gefängnis auf dem Sedel als Treffpunkt. „Kulturkompromiss“ lautete sein Motto, derweil es in Zürich wieder brodelte, schaffte man in Luzern weitere alternative Kulturräume und konnte im Gegenzug ungestraft das prestigeträchtige KKL bauen.
Bieri und Huwyler erzählen solches ausgehend von viel spannendem Archiv- und Dokumentarmaterial, und die Liste der Personen, die Bieri und Huwyler als Zeitzeugen auftreten lassen, liest sich von Judith Stamm über Thomas Hürlimann, Jo Lang, Beat Wyrsch, Thomas Trüb bis zu Thomas Held wie ein Who’s Who der bewegten Schweiz. Obwohl filmisch kein Meisterwerk – die Kamera ist reportageartig, die Montage unnötig hektisch – ist Nach dem Sturm kurzweilig unterhaltsam und historisch spannend: ein bewegtes Kapitel der Zentralschweizer Kultur- und Gesellschaftsgeschichte.
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