Sibyl Frankreich 2019 – 100min.
Filmkritik
Der Vulkan des Verrats
Justine Triet hat sich mit Victoria einen Namen gemacht und Virginie Efira schon einmal in Szene gesetzt. Dieses Mal hat es Triet in den Wettbewerb von Cannes geschafft: In Sibyl, einem psychologischen Drama vor dem Hintergrund gequälter Romantik, lockt die französische Filmemacherin mit Zuckerbrot und Peitsche.
Sibyl (Virginie Efira) ist ursprünglich Schriftstellerin, arbeitet aber seit 10 Jahren als Therapeutin. Die Psychoanalyse wurde jedoch zunehmend zur Belastung, weshalb sich Sibyl entschliesst, sich wieder ihrer ersten Liebe zuzuwenden: Dem Schreiben. Hier kommt Margot (Adèle Exarchopoulos) ins Spiel, eine Schauspielerin in emotionaler Not, schwanger mit dem Hauptdarsteller Igor (Gaspard Ulliel), der selbst in einer Beziehung zur Regisseurin steht. Eine Situation, die Sibyl mit ihrer quälenden und verdrängten Vergangenheit konfrontiert. Trotz der anfänglichen Zurückhaltung entscheidet sie sich, sich von Margots Geschichte inspirieren zu lassen, um ihren nächsten Roman zu schreiben. Während die Psychoanalytikerin in Stromboli am Set ist, wendet sich alles zum Schlechten…
"Jetzt brauchen wir die Realität, denn reine Fiktion interessiert die Öffentlichkeit nicht mehr, wir brauchen eine Verbindung mehrerer Themen", so das Ergebnis des Gesprächs zwischen Sibyl und Basile, ihrem Verleger (Aurélien Bellanger). Auf der anderen Seite wird ein Patient wütend und beschuldigt sie, ihn feige verlassen zu haben. Obwohl Sibyl von allen Seiten in die Enge getrieben wird, steht ihre Entscheidung fest: Die Psychoanalyse liegt längst hinter ihr. Doch die Sterne stehen gut, denn als Margot unerwartet auftaucht, steht das Thema ihres nächsten Romans fest. Ihre Neugierde ist zwar fehl am Platz, aber das Thema fasziniert nichtsdestotrotz.
Es ist allgemein bekannt – diejenigen Menschen, die helfen, sind oft diejenigen, denen geholfen werden sollte. So auch Sibyl. Sie ist ehemalige Alkoholkranke, hat eine betrübte Mutter, leidet Qualen, wird von einer Liebe aus der Vergangenheit verfolgt: Gabriel (Niels Schneider). Eine verzehrende Leidenschaft, eine körperliche Liebe. Erinnerungen, brennend vor Verlangen. Als Margot in ihr Leben tritt, erkennt Sibyl ein wenig von ihrer eigenen Geschichte; sie ist Zuschauerin einer Liebschaft, die lebendig gehäutet wird. Die verschiedenen Protagonisten bitten sie, sich nicht für eine Seite zu entscheiden, neutral zu bleiben.
Mika (Sandra Hüller), die Regisseurin, arrangiert sich mit der bedauernswerten Situation und versucht, ihren Film zu Ende zu bringen, bevor sie alles hinter sich lassen kann. In Anlehnung an Roberto Rossellinis Stromboli beherbergt die Vulkaninsel mehrere Vulkane, von denen vor allem einer verletzend werden kann: Der Verrat. Sibyl entscheidet sich für den radikalen Weg, sowohl physisch als auch psychisch, was zu gewissen Klischees und Verkürzungen führt. Hier zeigen sich einige Schwächen, wie etwa der Hang zur Vulgarität. Ein körperlicher, leidenschaftlicher Film, dessen sexuellen Vorgänge der Geschichte jedoch einen schlechten Dienst erweisen.
Justine Triet nimmt die menschlichen Beziehungen nichtsdestotrotz geschickt unter die Lupe. Neurotische, traurige, erschöpfte, manipulative Wesen. Fiktion wird Realität, allem wird der Boden unter den Füssen weggezogen, alles erhält eine katastrophale Dimension. Sibyl taucht ab in ihre unerschöpfliche Vergangenheit. Sie taumelt, als sie versucht, einer Frau zu helfen, die durch den Akt eines charmanten Mannes zerstört wird, für den alles nur ein Spiel war.
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