Un divan à Tunis Frankreich 2019 – 88min.
Filmkritik
Psychoanalyse auf Tunesisch
Nach der Revolution in ihrer tunesischen Heimat will eine junge Frau in Tunis eine Psychoanalyse-Praxis eröffnen. Es ist der Beginn einer turbulenten, zwischen Stagnation und Euphorie geprägten Zeit, kurz nach dem Ende des Arabischen Frühlings.
Aller Anfang ist schwer: Denn Selmas (Golshifteh Farahani) Landsleute betrachten ihr Vorhaben kritisch, und auch die Behörden legen ihr Steine in den Weg. Weil die eigene Praxis weiterhin auf sich warten lässt, entschliesst sich die resolute Frau, kurzerhand ihre Patienten in ihrem eigenen Zuhause zu empfangen. Und schon bald gehen die unterschiedlichsten Personen in Selmas improvisierter Praxis ein und aus, um sich ihren Kummer von der Seele zu reden.
Bis 2011 regierte Diktator Ben Ali das Land mit eiserner Hand, bereicherte sich am Besitz seiner Landsleute und duldete keine Kritik am autokratischen Führungsstil. Das hinterliess tiefe seelische Wunden bei vielen Tunesiern, denen sich Labidi auf vielfältige Weise und mit grosser Aufmerksamkeit zuwendet. Dabei setzt sie auf Situationskomik sowie (bewusst) überzeichneten Wortwitz, um die verschiedenen Stimmungen und Prägungen im Land einzufangen.
Das gelingt ihr vor allem am Beispiel von Selmas neurotischer Verwandtschaft ganz vorzüglich. So stehen einige Familienmitglieder stellvertretend für die Möglichkeiten der Verarbeitung erlebter Ungerechtigkeit und Repression. Während ihr Onkel nur mit Alkohol den Tag übersteht, ist ihre Tante verbittert und notorisch unzufrieden mit allem. Selmas Opa wiederum ist ein konservativer Anhänger des alten Systems und flüchtet sich in Verdrängung. Demgegenüber steht ihre Cousine eher für das Gegenteil: Sie will Veränderung und für die junge Generation im Land ein besseres Leben. Dies ist letztlich auch ein Antrieb von Selma, die von Golshifteh Farahani souverän und mit ironischer Leichtigkeit verkörpert wird. Bis dahin macht Labidi kaum etwas falsch.
Schwächen zeigt der Film vor allem ab der Hälfte. Zwar nutzt Labidi immer wieder augenzwinkernde Klischees (so haben Selmas Patienten etwa völlig falsche Vorstellungen von einer Therapie und der Arbeit einer Psychologin). Die episodische Herangehensweise erweist sich jedoch als wenig vorteilhaft. Denn es gibt schlicht zu viele Figuren, die Selma – in der Praxis ebenso wie in ihrem Alltag – ihr Leid klagen und letztlich unter mannigfaltigen psychischen Auffälligkeiten leiden.
Diese Vielzahl an nur oberflächlich und kurz angeschnittenen persönlichen Schicksalen wirkt zu beliebig und bruchstückhaft. So richtig nah fühlt man sich daher keiner Nebenfigur. Und der vorhersehbare inhaltliche Rom-Com-Nebenschauplatz mit einem einerseits übertrieben gewissenhaften, andererseits auf eine romantische Beziehung mit Selma hoffenden Ordnungshüter erscheint zudem obsolet.
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Kommentare
Die Analytikerin beschliesst nicht 'kurzerhand', sondern von Anfang an, im eigenen Zuhasue zu therapieren.
Was im Film fast gänzlich fehlt, ein gewöhnlicher Mann. Nicht gezeigt wird der Beamte (sein Gremium), der dann doch die Praxis bewilligte. Für Tunesier eher eine Science Fiction Figur: ein Polizist, der nicht korrupt ist. Mit seinen Cowboystiefeln beinahe ein zugezogener Fremdkörper wie Selma. In der Tat, die Romanze obsolet. Gefallen hat der Freud redividus als deus ex machina...… Mehr anzeigen
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