CH.FILM

Kleine Heimat Schweiz 2020 – 95min.

Filmkritik

Neuanfang mit 90

Björn Schneider
Filmkritik: Björn Schneider

Hanni, Rosa und Kurt, die letzten ihrer Generation in einer Wohnsiedlung im Zürcher Leimbach-Quartier, müssen ihre Wohnungen verlassen. Trotz ihres hohen Alters. Regisseur Hans Haldimann begleitete sie für seine Doku «Kleine Heimat» drei Jahre lang. Ein erzwungener Neustart mit 90.

Die Drei hätten sich nie vorstellen können, in ihrem Alter nochmal umziehen zu müssen. Und das nach 60 Jahren, in denen die Gemeinde am Stadtrand ihr Zuhause war. Kurt ist 79, Rosa Ende 80 und Hanni über 90 Jahre alt. Haldimann schildert die lebensverändernde Situation, begleitet seine Protagonisten durch ihren Alltag und wirft einen Blick auf prägende Lebensereignisse.

In «Kleine Heimat» lernen wir drei aussergewöhnlich charakterstarke und lebensbejahende Menschen kennen. Trotz aller Herausforderungen, die ein Wohnortwechsel mit sich bringt: von der Wohnungssuche bis hin zur Eingewöhnung am neuen Standort. Was für Hanni und Rosa hinzukommt: Die Frauen müssen eine über Jahrzehnte gewachsene Heimat zurücklassen, die mit unzähligen Erinnerungen verknüpft ist. Haldimann, der das Geschehen mit angenehmer Beiläufigkeit abbildet, begleitet sie zu einigen dieser emotional besetzten Orte. Darunter der nahegelegene Hügel, den die Kinder damals zum Schlittenfahren nutzten. Für junge Familien, da sind sich Hanni und Rosa einig, war der Ort «ein Paradies».

Zwar erzählen Hanni, Rosa und Kurt, der nach dem Tod seiner Frau später nach Leimbach zog und in Rosa eine neue Partnerin fand, oft von Vergangenem. Aber sie verfallen nie in Wehmut oder Melancholie, sondern leben bewusst und aktiv im Hier und Jetzt. So sehen wir etwa Hanni, so agil und flott unterwegs wie eine Vierzigjährige, wie sie alles problemlos und motiviert zu Fuss erledigt. Auch wenn es mal bergauf geht. «Meine Füsse sind das schon gewöhnt», kommentiert sie trocken.

Das positive, fröhliche Gemüt aller Beteiligten wirkt ansteckend. Sie denken gar nicht an Streitereien mit der Zurich-Versicherung, die über das Bauobjekt bestimmt und den Abriss veranlasst hat. Stattdessen akzeptieren sie die Dinge, wie sie sind, auch wenn sich Sorgen natürlich nicht vermeiden lassen. Haldimann begleitet geduldig diesen langsamen Prozess der Veränderungen und des Abschiednehmens. Bis, ganz am Schluss, die Abrissbagger kommen.

«Kleine Heimat» erweist sich als emotional gewichtiger und besonnen erzählter Film, da er sich Zeit für sich entwickelnde Situationen nimmt. Ohne Hast dürfen sich bei ihm Momente und Szenen entfalten, ob in Gesprächen, beim Friseurbesuch oder Einkaufen. Offensichtliche Kritik an gewinnorientieren Versicherungskonzernen, die sich wenig um die Lebensumstände der verdrängten Mieter scheren, erhebt Haldimann keine. Ebenso wenig seine Porträtierten. Dies schwingt eher unterschwellig und subtil durch, was zum unaufdringlichen, feinfühligen Erzählton des Films passt.

07.06.2021

4

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Kommentare

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thomasmarkus

vor 3 Jahren

Stille Lektion im Abschiednehmen


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