Retour à Visegrad Schweiz 2020 – 90min.
Filmkritik
Ein Klassentreffen wider das Vergessen
Julie Biros und Antoine Jaccouds Roadmovie um die Witwe eines Lehrers und dessen Freund, welche die Schüler seiner 1992 durch den Bosnienkrieg auseinandergerissenen Klasse zu einem Wiedersehen einladen, zeugt auch von unterschiedlichen Arten der Vergangenheitsbewältigung.
Erinnern? Mersiha kann es nicht. Sie fährt zwar ab und zu nach Visegrad, das heute zum Teil zu Herzegowina, zum Teil zu Bosnien gehört, und besucht den Friedhof, auf dem Mitglieder ihrer Familie bestattet sind. Doch sich aktiv erinnern an ihre Kindheit, die sie im früher mitten in Jugoslawien gelegenen Ort verbrachte, kann sich Mersiha nicht. Auch ihre einstigen Schulkameraden hat sie seit April 1992 nicht mehr gesehen.
Damals besuchte Mersiha die 4.Klasse, ihr Klassenlehrer war Srecko Krsmanovic. Wir waren Kinder, sagt Mersiha heute. Unschuldige Kinder, die keine Ahnung hatten von Politik, ethnischen Gruppierungen, von Bosniern, Serben, Christen und Muslimen. Als der Krieg ausbrach, wurde Sreckos Klasse auseinandergerissen. Mersiha kam mit ihrer Mutter in ein Lager, ihr jüngerer Bruder wurde da geboren. Sie hat einen Teil ihrer Familie im Krieg verloren. Als sie am 15. September 2018 zu einem Treffen mit ihren ehemaligen Klassenkameraden aufbricht, hofft sie, dass dabei kein Hass aufkommt und man miteinander über die Zeit von damals reden kann.
Organisiert haben das Treffen Krsmanovic‘ Witwe Djemila und sein bester Freund, Budimir Zecevic, der damals die Schule leitete. Die beiden fahren in Sreckos zitronengelbem Zastava quer durchs Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Im Gepäck ein altes Klassenfoto (be-)suchen sie die Schüler der damaligen Klasse 4A und laden diese zu einem Wiedersehenstreffen ein. Sie werden nirgendwo nicht höflich begrüsst. Die meisten können sich anders als Mersiha auch gut an früher erinnern und beginnen, und sei es manchmal auch bloss der Spur nach und in Andeutungen zu erzählen, was ihnen damals widerfuhr. Sie haben alle Traumatisches erlebt, im Leben inzwischen aber wieder Tritt gefasst. Obwohl alle die Einladung annehmen, tauchen beim Treffen schliesslich nur neun der ehemals achtundzwanzig Klassenkameraden auf.
„Retour à Višegrad“ lässt als dokumentarisches Roadmovie tief in die Seelen von durch politische Ereignisse um ihre Kindheit betrogenen Menschen blicken und gibt einen Anstoss zu einer dringend nötigen, kollektiven Vergangenheitsbewältigung. Der Film besticht durch sensible Kameraführung (Amel Djikoli) ebenso wie durch die sorgsam zurückhaltende Regie, die das Sprechen über schmerzhafte Erinnerungen überhaupt erst ermöglicht.
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