Die Eiche - mein Zuhause Frankreich 2021 – 80min.
Filmkritik
Die Jahreszeiten vergehen, der Baum bleibt
Jeder kann eine Eiche erkennen, doch die verschiedenen Lebewesen, die sie bewohnen, werden oft vergessen. Deshalb haben Laurent Charbonnier und Michel Seydoux beschlossen, ihre Kameras mitzunehmen, um vier Jahreszeiten lang die Entwicklung eines 200 Jahre alten Baumes und das Leben, das sich in ihm bei jedem Wetter entfaltet, zu beobachten. Der Film wurde in der Kategorie Berlinale Spezial bei den letzten Berliner Filmfestspielen gezeigt.
Am Anfang war der Baum. Die unerschütterliche Eiche, die die Filmschaffenden als Wiege des Lebens inmitten der üppigen Natur gewählt haben, ist in ihren Augen weit mehr als eine Pflanze. Zunächst ist sie nicht von anderen Bäumen im Wald zu unterscheiden, aber die Kamera macht sich daran, sie zu einer individuellen Figur zu machen, nicht durch das Leben, das sie beherbergt, sondern durch ihre eigenen Besonderheiten, indem sie ihren majestätischen Stamm hinaufsteigt, bis zu ihren Ästen, ihren Blättern, deren Chlorophyll sie detailliert untersucht, und schliesslich einer Eichel, dem Objekt vieler Hoffnungen und Wünsche. Erst nachdem wir dieses Geschöpf kennengelernt und seine Bedeutung bei Tag und Nacht erkannt haben, wird die Musik von den Rufen der Tiere übertönt.
Der Dokumentarfilm, der zum Teil während des Lockdowns gedreht wurde, zeigt, wie die Natur in Ruhe gelassen wird, um sich auf das zu konzentrieren, was zählt: das Leben. Ohne Voice-over wird die Geschichte der unterschiedlichen Lebewesen erzählt, die in ihrer wechselhaften Umgebung auf Hindernisse stossen. Die Regisseure zögern jedoch nicht, in der Montage mit den Regeln der Fiktion zu spielen. Auf diese Weise wird die Empathie für bestimmte Individuen durch spektakuläre und eindringliche Sequenzen verstärkt.
Der Film nimmt dramatische Züge an, wenn man um das Schicksal der Feldmausfamilie bangt, die vom Wasser in ihrem Bau eingeschlossen wird; auf eine mögliche Tragödie folgt Action, wenn ein Sperling nach einer Verfolgungsjagd den Krallen eines Habichts entkommt; der Alltag wird sogar abenteuerlich und rutscht ins Coming-of-Age-Genre, wenn eine Larve inmitten von Streitigkeiten um das Futter eine epische Reise unternimmt.
Nie moralisierend oder langweilig und mit dem Willen, seinen Figuren durch Nahaufnahmen und Kamerafahrten (jede Art hat auch ihren Namen im Abspann) ganz nah zu sein, vermenschlicht der Dokumentarfilm sie, wo anderswo der Schwerpunkt auf die Gefühle der menschlichen Forscher gelegt worden wäre. Dies führt zu einer der einprägsamsten Sequenzen des Films: die Paarung von Rüsselkäfern zur Musik von «Sway». Auch «Die Eiche» folgt dem Weg, den «Mikrokosmos» vor Jahrzehnten eingeschlagen hat, und treibt die Infragestellung des menschlichen Einflusses auf die Natur durch das Staunen über dieses von uns unabhängige Ökosystem noch ein wenig weiter voran. Denn am Ende wird der Baum bleiben.
Übersetzung aus dem Französischen von Eleo Billet durch Maria Engler.
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