CH.FILM

Parallel Lives Schweiz 2021 – 139min.

Filmkritik

Die Leben der Anderen: ein Stück Zeitgeschichte

Irene Genhart
Filmkritik: Irene Genhart

In der Begegnung mit vier Menschen, die am gleichen Tag wie er aber an einem anderen Ort geboren wurden, begibt sich der Schweizer Frank Matter auf filmische Erkundungsreise. Dabei setzt er die Erfahrungen seiner Protagonisten in Bezug zu seiner eigenen Biografie und geht der Frage nach, inwiefern historisch wichtige Ereignisse menschliche Schicksale formen.

Der Schweizer Journalist und Filmemacher Frank Matter erblickt am 8. Juni 1964 in Sissach das Licht der Welt. Am gleichen Tag wird in Moskau Elena Andrianovna Nikolaeva-Tereshkova geboren. Sie ist das Kind zweier Kosmonauten und wächst im Rampenlicht der Öffentlichkeit auf. Er hätte, erzählt Matter in seinem rund 57 Jahre später entstandenen Film, sich mit Elena manchmal gern über ihr berühmtes und sein bescheidenes Leben sowie die Entwicklung der Welt unterhalten. Sie aber hat seine Kontaktversuche schnöde ignoriert.

Die Idee, anhand des eigenen Lebens sowie fremder Biografien nachzuforschen, welchen Einfluss politische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen auf persönliche Schicksale haben, allerdings liess Matter nicht wieder los. So suchte er weiter nach «Geburtstags-Zwillingen» und wählte unter diesen schliesslich zwei Männer und zwei Frauen aus, die an Orten geboren wurden oder leben, die ihm selber viel bedeuten.

Matter begleitet seine Protagonisten in ihrem Alltag und lässt sie aus ihren Leben erzählen. Wo ihre Geschichten in Bezug zu historischen Ereignissen treten, illustriert er diese mit Bildern aus Newsarchiven. So erfährt man vom Chinesen Li Pujian, wie er als Kind in bitterer Armut die Kulturrevolution erlebte, sich als Erwachsener aber gesellschaftlich erfolgreich hochkämpfte. Die Südafrikanerin Zukisawa Ramncwana wuchs zur Zeit der Apartheid auf. Sie engagierte sich als junge Studentin im Befreiungskampf, machte aber unschöne Erfahrungen und zog sich zurück. Als über 50-Jährige ist überzeugt, dass nicht Ausbildungen, sondern Beziehungen Lebenswege bestimmen.

Die Amerikanerin Melissa Hensy stammt aus einer Soldatenfamilie, die alle paar Jahr umzog. Sie hatte ein Faible für gewalttätige Männer, fand mit dem Katholiken Homer dann aber zum «langweiligen Leben», das sie heute glücklich macht. Anders Michel Berardi. Er wuchs als Sohn eines despotischen Vaters und einer sanftmütigen Mutter in Paris auf. Er rebellierte in seiner Jugend, rutschte in die Drogen, fand im Los Angeles der 1980er Sound und Lifestyle, die ihm behagten. Nachdem er in 1990ern als Modedesigner durchstartete, verlor er beim Börsencrash 2008 Job, Hab und Gut, Familie und Freunde. Heute lebt bescheiden in einer neuen Beziehung und meint, das Wichtigste im Leben sei es, die Dinge zusammenzuhalten.

Matter verortet die verschiedenen Erzählungen im Spannungsfeld wichtiger politischer Ereignisse und gesellschaftlicher Entwicklungen und entwirft in bilderprächtiger Verdichtung ein faszinierendes Puzzle jüngster Zeitgeschichte. Ausgangspunkt seiner Suche ist die dem Film vorangestellte Frage nach der Schicksalhaftigkeit des Seins und dem, was Menschen verbindet und einander fremd sein lässt. Die Welt habe sich in der Zeit seines Lebens enorm verändert und die Globalisierung die Menschen nahe wie nie zuvor zusammenrücken lassen, lautet Matters Fazit. Sein im Laufe mehrerer Jahre entstandener Film allerdings endet mit im Frühling 2020 geschossenen Aufnahmen und der Feststellung, dass diese Pandemie, von der man noch nicht weiss, welche Bedeutung ihr dereinst zukommt, die Menschen wieder auseinander treibt.

07.02.2022

4

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