Rien à foutre Belgien, Frankreich 2021 – 110min.
Filmkritik
Das Leben in der Billigklasse
Schon in «Blau ist eine warme Farbe» («La vie d'Adèle») zeigte Adèle Exarchopoulos ihr Können, welches sie nun auch zehn Jahre später in «Rien à foutre» erneut unter Beweis stellt. In dieser Co-Regiearbeit von Emmanuel Marre und Julie Lecoustre verkörpert sie eine desillusionierte Flugbegleiterin.
Nach ihrem Kurzfilm «Castle to Castle» (2018) legt das Paar Marre-Lecoustre hinter der Linse einen ersten Spielfilm vor, der die Arbeitswelt thematisiert. Ein Thema, das ersterer bereits in «Ceux qui travaillent» (2018) behandelt hat, der zum Teil in der Schweiz gedreht wurde. Doch «Rien à foutre» geht den entgegengesetzten Weg zu diesem früheren Film. Wie der Titel schon sagt, folgen wir weder einem Chef, der mit der Globalisierung konfrontiert wird, noch einem Arbeitnehmer, der mit einer wirtschaftlichen Entlassung konfrontiert wird. Denn Cassandra schert sich nicht um die Ungleichheiten der neoliberalen Gesellschaft, in der sie nur ein kleines Rad im Getriebe ist. Eine Szene veranschaulicht den Gemütszustand dieser jungen Frau perfekt. Ihre Kollegen, die in der Gewerkschaft sind, streiken und versperren ihr den Weg. Ungeduldig und verlegen lacht die ungestüme Flugbegleiterin über die Forderungen, die für die Zukunft formuliert wurden. Apathisch lässt sie den Streikenden passiv seine Rede abspulen, bevor sie die Blockade durchbricht und zu ihrem Flug geht.
Dennoch ist Cassandre eine Frau mit einer grossen Sensibilität. Für das Wohl ihrer Passagiere zögert sie nicht, mit dem strengen Protokoll ihrer Fluggesellschaft zu brechen und riskiert dafür ihren Job. Die Erzählung beleuchtet das Pyramidenmanagement der Billigfluggesellschaften, in dem Denunziantentum herrscht und Gespräche per Webcam die Norm sind. Im Gegensatz zu einem Vincent Lindon oder einem Olivier Gourmet, die sich diesen entmenschlichenden Bedingungen widersetzen, fantasiert sich die von Exarchopoulos gespielte Figur ihr Leben auf den sozialen Netzwerken zusammen. Der Augenblick wird von nächtlichen Abenteuern verzehrt: Von den Nachtclubs auf Lanzarote bis zum One-Night-Stand in Warschau. Das Bild ist übersättigt, der Bildausschnitt ist wackelig. Es erinnert an unsere Klischees von übermässig betrunkenen Abenden, wo der Blitz den Rausch als rohe Realität wiedergibt.
Der zweite Teil des Films löst sich von dieser Welt und behandelt das Familiendrama, das Cassandre erlebt. Wir glauben, dass wir die Gründe für ihre Flucht vor ihrem ungeschickten Vater (Alexandre Perrier) und ihrer Schwester (Mara Taquin) verstehen. Doch die Realität ist komplexer, als es den Anschein macht. Das weiss die Cabin Crew Junior. Aber will sie es wirklich hören? Die Filmemacher nutzen diese Haltung ihrer Heldin aus: Die Dialoge sind oft unhörbar, im Gegensatz zu den Überlegungen des Zuschauers. Die Globalisierung führt zu Widersprüchen, die zu akzeptieren kompliziert ist.
Rien à foutre trägt definitiv den bitteren Geschmack einer desillusionierten Jugend in sich. Ohne moralisierend zu wirken, beleuchtet er die Widersprüche einer Gesellschaft. Soll man seine Träume um den Preis der Ausbeutung der Arbeit und der menschlichen Beziehungen verfolgen? Dieser erste Spielfilm balanciert ständig zwischen diesen Fragen und schafft es auf brillante Weise diese Realität zu erforschen, der man wie Cassandra lieber ausweicht.
Übersetzung aus dem Französischen von Fanny Agostino durch Zoë Bayer.
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