Saint Omer Frankreich 2022 – 122min.

Filmkritik

Saint Omer

Filmkritik: Kilian Junker

Die französische Regisseurin Alice Diop, die für ihre Dokumentarfilme bekannt ist, wechselt nun mit ihrem ersten Spielfilm «Saint Omer» auf die Seite der Fiktion. Er wurde bei den Filmfestspielen von Venedig ausgezeichnet und kürzlich beim GIFF (Geneva International Film Festival) gezeigt, wo er den Reflet d'or für den besten Spielfilm gewann. Dieses Jahr wird er bei den Oscars an den Start gehen, um Frankreich zu vertreten.

Eine Schriftstellerin (Kayije Kagame), die sich in den einschüchternden Räumen eines Provinzgerichts in der Stadt Saint-Omer verliert, nimmt an einem Prozess wegen Kindstötung teil. Im Laufe der Urteilsverkündung entdeckt die Schriftstellerin immer mehr Gemeinsamkeiten mit der Mörderin, zwischen ihrer eigenen zukünftigen Schwangerschaft, ihrer getrübten Beziehung zu ihrer Mutter und ihrer senegalesischen Herkunft. Ein frischer Blick, der die Verhältnisse zur Mutterschaft brillant erforscht.

Alice Diop, die eigentlich aus dem Dokumentarfilm kommt, greift in ihrem ersten Spielfilm eine wahre Begebenheit aus dem Jahr 2013 auf, die für viel Aufsehen sorgte. Gemeinsam mit zwei weiteren Drehbuchautorinnen (Amrita David und Marie Ndiaye) befreit Diop ihren Film von jeglicher grellen Inszenierung und konzentriert sich voll und ganz auf das, worum es ihr geht: die Mutterschaft. Denn das ist es, was alle Protagonistinnen in dieser Fiktion vereint: die kindermordende Mutter, ihre eigene Erzeugerin und die Schriftstellerin. Der Film beginnt mit dem Leben der Schriftstellerin, doch «Saint Omer» erzählt die Geschichte der Verbrecherin in langen Einstellungen, von der Zeugung des Kindes bis zur Entdeckung der am Strand angespülten Leiche.

Die kindermordende Mutter (Guslagie Malanda) verschmilzt allmählich mit der Kulisse des Gerichts. Steif, auf dem Podest ihrer Anklagebank stehend, mit starrem Blick, trotzt sie wie eine Statue dem Sturm, den sie durchlebt: ein Wechselbad der Beschimpfungen, Gewalt in den Worten, Heftigkeit in den Plädoyers. Trotz dieses statischen Bildes und der Dehnung der Einstellungen wird der Prozess, der zunächst unter dem harten - fast chirurgischen - Licht von Diops Kamera erscheint, nach und nach menschlicher. Sich begegnende Blicke, der Hauch einer Träne, Seufzer - alles trägt dazu bei, Emotionen zu wecken, die mit dem Schlussplädoyer explodieren. Ein Film von seltener Intensität, der seinen Preis im Wettbewerb in Genf mehr als verdient hat.

Übersetzung aus dem Französischen durch Maria Engler

02.03.2023

4

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Kommentare

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thomasmarkus

vor einem Jahr

Oft undurchschaubar: Was passiert war, wieso, selbst das Gerichtsurteil bleibt offen. Und undurchschaubar, was genau in den Nebengeschichten erzählt wird. Und wer plötzlich im Zeugenstand als wer auftaucht. Und diese Undurchschaubarkeit öffnet geradezu Blicke und Perspektiven.
Sie sind zu ambigue! zetert der Staatsanwalt. Ein gute Lektion in Ambiguitätstoleranz.Mehr anzeigen

Zuletzt geändert vor einem Jahr

Filmenthusiast

vor einem Jahr

selbst das Gerichtsurteil bleibt offen ... *Spoiler*

thomasmarkus

vor einem Jahr

@Filmenthusiast oops –was har Wiederholungstäter auf Weg zur Besserung für ein Urteil zu gewärtigen?

Zuletzt geändert vor einem Jahr

Filmenthusiast

vor einem Jahr

@thomasmarkus Da sehr charmant und einsichtig nur ein Klapps auf die Finger :-)

Zuletzt geändert vor einem Jahr


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