Tori et Lokita Belgien, Frankreich 2022 – 80min.
Filmkritik
Die Ausbeutung des Elends
Die Brüder Dardenne erweitern in ihrem neuen Werk, das in Cannes mit einem Sonderpreis ausgezeichnet wurde, die Grenzen des naturalistischen Kinos, verrennen sich aber in ihrem ausbeuterischen Ansatz.
Tori (Pablo Schils) und Lokita (Joely Mbundu), Geschwister im Exil, haben sich seit ihrer Überquerung des Mittelmeers nicht mehr losgelassen. Nachdem sie in Belgien in einem Zentrum für minderjährige Asylsuchende untergekommen sind, nehmen sie eine Reihe von Gelegenheitsjobs an, um Lokitas Mutter zu unterstützen, und werden Drogendealer, um ihre Schlepper auszubezahlen. Als Lokita abgeschoben werden soll, wird sie von Tori getrennt. Trotz der Risiken macht sich dieser auf die Suche nach ihr.
Wenn es eine Schwelle zwischen dem Zeigen von Leid, um Empathie zu wecken, und dem Schwelgen darin gibt, dann haben die Dardennes diese Grenze in Tori und Lokita mühelos überschritten. Der Film besteht aus zwei Teilen, die sich je nach Ansatz der Regisseure voneinander unterscheiden. Der erste Teil ist naturalistisch und die Plansequenzen kommen den Gefühlen der beiden jungen Hauptakteure sehr nahe. Die Beziehung zwischen Tori und Lokita wird durch ein italienisches Lied über Geld und Lachen verdeutlicht und ist ihrem engen Zimmer von einer Liebe geprägt, die aufrichtig erscheint.
Die zweite Hälfte des Films entwickelt sich zu einem Thriller, verliert dabei viel von seiner Glaubwürdigkeit und macht die Figuren zu Symbolen ohne Kontrast zwischen Lokita, einer beschämten Märtyrerin, die schließlich geopfert wird, und Tori, einer Art Schutzengel, der ihren Status als verfolgtes Hexenkind erbt. Während Lokitas Vergewaltigungen ausgeklammert werden, wird jede andere Form von Gewalt bis hin zum Mord in einer Anhäufung von Erniedrigungen wiederholt, die die Sinnhaftigkeit in Frage stellt, das Leiden einer jungen schwarzen Migrantin auf der Leinwand so zu zeigen und auszubeuten. Selbst die soziale Kritik an der unwürdigen Aufnahme von Migrantinnen und Migranten in Belgien ist überholt, zu belehrend und steht im Widerspruch zur Darstellung, die Lokita manchmal so zeigt, als wolle sie das System missbrauchen, indem sie als Flüchtling anerkannt wird.
Die Gefährdung unbegleiteter Minderjähriger und ihre Abhängigkeit von Netzwerken, in denen sexuelle Gewalt und Drogen an der Tagesordnung sind, sind Themen, die Luc und Jean-Pierre Dardenne zu ihrer wütenden Inszenierung inspirieren. Doch ihre Kritik ist wackelig, wird von Stereotypen genährt und verfällt in eine überbelichtete Darstellung der Not und des Leidens ihrer Figuren.
Übersetzung aus dem Französischen von Eleo Billet durch Maria Engler.
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Kommentare
Beklemmend, berührend. Umso mehr, wenn man Geflüchtete kennt und weiss, dass es solche Geschichten tatsächlich gibt. Die Cineman-Filmkritik empfinde ich als absolut unzutreffend.
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