CH.FILM

Under the fig trees Frankreich, Deutschland, Katar, Schweiz, Tunesien 2021 – 92min.

Filmkritik

Unter den Feigen oder der Sinn für optische Täuschungen

Filmkritik: Kevin Pereira

Der neue Film «Under the fig trees» der französischen Regisseurin tunesischer Herkunft Erige Sehiri, der für die Quinzaine des réalisateurs des Filmfestivals von Cannes ausgewählt wurde, nimmt die raffinierte Form einer optischen Täuschung an: Mit seinem scheinbar leichten und zarten Erscheinungsbild zeichnet der Film die Umrisse einer tunesischen Gesellschaft, deren Traum von Freiheit immer wieder gegen den herrschenden Konservatismus zu stossen scheint.

Sommer in Tunesien: Der Tag bricht an und ein Lieferwagen holt eine Gruppe von Arbeitern, Männer und Frauen, junge Teenager und Senioren, ab, um in einem Obstgarten Feigen zu pflücken. Der Obstgarten wird zum Schauplatz einer Gemeinschaft, in der sich Gruppen bilden und auflösen, in der Smalltalk zu Liebesaffären führen kann und die Süsse der Früchte ein perfekter Kontrapunkt zur Bitterkeit der sich zerschlagenden Hoffnungen ist.

Von Anfang an trifft «Under the fig tress» das Herz eines grossen nationalen Anliegens: eine Gemeinschaft - hier von Arbeitern und Arbeiterinnen - zu gründen, eine Gesellschaft zu erforschen und einen Blick auf sie zu werfen, geprägt von der Idee, dass das Land in sich selbst gefangen ist und daher unbedingt seinen Geist öffnen muss. Die Wahl des einzigartigen Schauplatzes - ein Obstgarten, in dem die Früchte gepflückt und sortiert, schlimmer noch, gegessen und gestohlen werden - ist daher kein Zufall: Der Ort ist wie ein geschlossener Raum gestaltet, der die Grenze zwischen denjenigen, die sich an die Regeln halten, und denjenigen, die sie missachten, zieht. Die Älteren sind ernst und fleissig, sie arbeiten und ärgern sich darüber, dass ihre Männlichkeit in Frage gestellt wird - die einzige Form der Wertschätzung für eine Generation, die die Franzosen aus Tunesien vertrieben hat. Auf der anderen Seite sind die jungen Frauen verloren zwischen ihrem Wunsch nach Freiheit und dem Respekt vor den kulturellen Traditionen, die stark von den alten Arbeiterinnen verkörpert werden.

Es ist bekannt, dass das bevorzugte Mittel, um eine Gesellschaft zu hinterfragen und ihre Missstände zu identifizieren, (zu?) oft der Naturalismus ist. «Under the fig trees» hat aber weder die formale Virtuosität noch die romantische Kraft, um uns in seinem jugendlichen und politischen Elan mitzureissen: Durch die Anhäufung von Situationen, in denen sich Paare in Grossaufnahme unterhalten, verstrickt sich der Spielfilm in einem gewissen narrativen Muster, das ihn mechanisch wirken lässt. Hier liegt vielleicht der grösste Nachteil des Films: Er schafft es nicht, die faszinierende Dauer zu erreichen, die die Bedeutung bedeutender naturalistischer Filme ausmacht, und müht sich mit erschöpften Atemzügen ab. Dieser Vorwurf ist zwar berechtigt, da der Film einige Längen aufweist, aber er beeinträchtigt nur zum Teil seine tadellos subtile Gesamtökonomie, die sich ständig weigert, das Spiel der billigen Erbärmlichkeit zu spielen. In dieser Hinsicht ist Erige Sehiri dafür zu danken, dass er die Gewalt der sozialen Beziehungen auf sanfte und angemessene Weise menschlich gemacht hat.

Übersetzung aus dem Französischen durch Maria Engler

04.05.2023

3

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Kommentare

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thomasmarkus

vor einem Jahr

Blick hinter Schleier, und behauptete Männlichkeit


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