CH.FILM

Unrueh Schweiz 2022 – 95min.

Filmkritik

Keine Zeit, für niemand!

Cornelis Hähnel
Filmkritik: Cornelis Hähnel

Mit der neuen Berlinale-Leitung Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian wurde auch ein neuer Wettbewerb ins Leben gerufen. «Encounters» soll für Filmschaffende sein, die «Kino nicht als vordefinierte Kunstform verstehen, sondern eher als Feld, dass sich wie unser Universum ständig ausdehnt», schreibt Chatrian über die neue Sektion. Und tatsächlich schickt sich Regisseur Cyril Schäublin mit «Unrueh» an, die Erzählformen des Kinos neu zu vermessen. Und dafür gab es auf der Berlinale 2022 den Preis für die Beste Regie.

Die Schweiz, im Jahr 1877. Die junge Arbeiterin Josephine stellt in einer Uhrenfabrik die «Unrueh», das mechanische Herz einer Uhr, her. Die Produktion läuft bereits im Takt der Industrialisierung, Beamte und Gendarme wachen über Uhrzeiten und Produktionsbetrieb. Josephine sympathisiert mit der internationalen Arbeiterbewegung und ist fasziniert von dem russischen Kartographen und Anarchisten Pyotr Kropotkin, und schliesst sich der Gewerkschaft der anarchistischen Uhrmacher an. Aber als sie Kropotkin im realen Leben begegnet, ändert sich der Lauf der Dinge…

Es klingt sonderbar, aber die Schweiz war Ende des 19. Jahrhunderts sowas wie ein Epizentrum der Anarchisten. 1872 fand im Tal von Saint Imier (im nördlichen Teil des Kantons Bern) der erste internationale anarchistische Kongress statt, und so wurde der Ort zum Treffpunkt dieser Bewegung. Cyril Schäublin hat seinen Film in diesem Tal gedreht und erzählt von mechanischen und politischen Bewegungen.

«Unrueh» ist kein klassisches Historiendrama, denn wie bereits in seinem letzten Film «Dene wos guet geit», dominiert auch hier eine ungewöhnliche Narration. Ähnlich wie die anarchistische Idee einer dezentralen Kraft breitet sich die Geschichte langsam aus und ihre losen Enden werden vom langen Arm der Theorie miteinander verwoben. Statt um Emotionen geht es um Konstruktionen, um kleine Begegnungen und Ideen, die sich zu einem grossen Gesamtbild türmen.

Überhaupt ist die Bildsprache sehr besonders, immer wieder konzentriert sich der Film in Close-Ups auf die Handarbeit an der Uhrenmechanik, um dann in eine entrückte Totale zu wechseln, die die Menschen aus der Distanz beobachtet. Die Kamera ist dabei eher Voyeur denn Verbündeter und blickt aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Treiben im Tal, um die vertraute Wahrnehmung der Welt zu hinterfragen. Die Fotografen, Uhrmacher und Kartographen, die den Film bevölkern, stehen für den Versuch der Menschheit, sich die Natur anzueignen, sie zu beherrschen und Kontrolle über sie zu erlangen.

Schäublin zeigt, wie die vermehrte Verbreitung von Uhren Auswirkungen auf den Arbeitsablauf hat und wie sich unterschiedliche politische Systeme nebeneinander behaupten, und stellt zugleich die Frage, inwieweit die Konstruktionen von «Nation» oder «Zeit» damals geprägt wurden und wie sehr sie bis heute unser Leben bestimmen.

Und so ist «Unrueh» ein eigenwilliger Film geworden, dessen ruhig fliessende Erzählung im Auge des Betrachters ruht, aber unter dessen Oberfläche eine subversive Unruhe tickt.

04.08.2022

4

Dein Film-Rating

Kommentare

Sie müssen sich zuerst einloggen um Kommentare zu verfassen.

Login & Registrierung

Tianovic

vor einem Jahr

Ich war überrascht, wie langweilig und schleppend der Film ist, wegen meiner Schwerhörigkeit bin ich auf den deutschen Untertitel angewiesen, dieser fiel immer aus. ich knickte auch immer wieder ein und verpasste somit einiges. Die Verfilmung, wie es zu dieser Zeit war, war sicher ansprechend, aber zu der Katogorie "Beste Regie" sollte schon mehr kommen.Mehr anzeigen


roccoluke

vor einem Jahr

Langweilig und das Thema schwach umgesetzt. Leider zuviel erwartet und völlig enttäuscht geworden.


katrinluethi

vor einem Jahr

Der Film ist symbolisch in Gegenpolen durchkonstruiert (der Titel ist aber weitgehend das Beste an Doppeldeutigkeit) und extrem originell in den Bildausschnitten. Als “Installation” im Museum fände ich das toll. 90 Minuten davon sind aber zuviel, die originellen Ausschnitte machen das Mitkommen anstrengend und nach 20 Min ist eigentlich alles Wesentliche gesagt. Man erfährt nicht viel über Anarchie oder Uhrmacherei (das Dokumentarische, das ich mir erhofft hatte) weil eben im Zweifelsfall die Symbolik wichtiger ist als Historizität. Auch eine Handlung gibt es fast nicht, die Liebesgeschichte ist extrem gesucht, Dramaturgie nonexistent, nicht mal ein Rhythmus spürbar - erst ganz am Schluss kam da noch die Idee des Zeitraffers. Dazu sind die berndeutschen Dialoge erstaunlich inhaltsleer und fast schon zum Fremdschämen - wurde wohl nicht für ein CH-deutsches Publikum designed. Schade!Mehr anzeigen


Mehr Filmkritiken

Gladiator II

Red One - Alarmstufe Weihnachten

Venom: The Last Dance

Typisch Emil