Le Ravissement Frankreich 2023 – 98min.

Filmkritik

In der Lügenspirale

Filmkritik: Maxime Maynard

Mit ihrem ersten Spielfilm «Le Ravissement» gewann die Französin Iris Kaltenbäck den SACD-Preis bei der Kritikerwoche der Filmfestspiele von Cannes 2023. Eine verdiente Auszeichnung für ein faszinierendes und bemerkenswert konstruiertes Werk.

Lydia (Hafsia Herz) ist Hebamme. Eines Abends lernt sie Milos (Alexis Manenti), einen Busfahrer, kennen. Ihre Geschichte ist von kurzer Dauer, doch Monate später begegnen sie sich erneut im Krankenhaus. Milos besucht seinen Vater, Lydia ihre beste Freundin Salomé (Nina Meurisse), die gerade entbunden hat. Mit dem Baby auf dem Arm beginnt Lydia eine Lüge, die ihr ganzes Leben zerstören wird.

Die Drehbuchautorin und Regisseurin Iris Kaltenbäck wurde durch einen Bericht über die Entführung eines Kindes durch die beste Freundin der Mutter auf das Thema aufmerksam. Die Juristin liess sich bei der Entwicklung ihrer Geschichte von ihren eigenen Beobachtungen und den von ihr mitverfolgten Gerichtsverhandlungen inspirieren. Ihr Ziel ist es, die Handlungen ihrer Figur zu verstehen, ohne sie zu verurteilen oder ihr die Schuld zuzuweisen.

Ihre Hauptfigur ist Lydia. Sie ist Hebamme und arbeitet in einer Entbindungsstation. Die Regisseurin nähert sich der Realität so nah wie möglich und verwischt dabei die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion. Begleitet von einem kleinen Team bewegen sie und ihre Darstellerin sich in einem echten Krankenhaus, halten echte Geburten und authentische Momente des Lebens mit der Kamera fest.

In der Rolle der Lydia ist Hafsia Herzi faszinierend. Mit ihrer sanften Stimme haucht sie ihrer Rolle eine wunderbare Sensibilität ein und erzwingt dadurch Empathie. Durch ihre zurückhaltende Darstellung lässt sie eine Komplexität erkennen, die weit von einer rein einseitigen Charakterdarstellung entfernt ist. Sie erweckt eine junge Frau zum Leben, die sich langsam in den Verstrickungen ihrer Lüge verfängt. Bereits in den ersten Minuten des Films ist klar, dass Lydia im Gefängnis landen wird.

Von da an wird «Le Ravissement» zu einer Enthüllungsgeschichte, einer Nachforschung. Als Opfer dieses Betrugs übernimmt Milos (Alexis Manenti) die Kontrolle über die Erzählung. Aus dem Off spricht er seine eigenen Fragen aus und stellt sie den auf der Leinwand gezeigten Ereignissen gegenüber. Diese zwei Perspektiven ermöglichen es dem Publikum, eine eigene Analyse zu wählen.

Die Einsamkeit der Protagonist:innen spiegelt sich in der Dunkelheit wider, die sie auf der Leinwand umgibt. Das Ergebnis sind wunderschöne Aufnahmen, zusammengestellt von Marine Atlan, die bereits an der Schweizer Produktion «Foudre» beteiligt war. Sowohl optisch als auch thematisch ist «Le Ravissement» ein gelungener Film, den man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte.

08.07.2024

4.5

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