CH.FILM

Gripsholm Österreich, Deutschland, Schweiz 2000 – 100min.

Filmkritik

Wer liebt denn heute noch?

Filmkritik: Gerhard Schaufelberger

Xavier Koller (Reise der Hoffnung, Das gefrorene Herz) hat Motive aus Kurt Tucholskys "Schloss Gripsholm" mit Episoden aus dem Leben des Schriftstellers verflochten. "Gripsholm" führt uns auf eine malerische Sommerreise nach Schweden. Doch mit im Gepäck fährt auch die Erinnerung an die hass-geliebte Heimatstadt Berlin, die an der Schwelle zur finsteren Epoche des Nationalsozialismus steht.

Berlin 1932. Kurt (Ulrich Noethen) ist drauf und dran, die Feder niederzulegen und in den Urlaub zu fahren. Kurz vor seiner Abreise erfährt er von seinem Verleger (Rudolf Wessely), dass ihm eine Anklage droht, weil er in einem Leitartikel Soldaten als Mörder bezeichnet hat. Der alte Meister rät ihm, eine leichte Sommergeschichte zu verfassen, "schliesslich wollen die Leute etwas haben, was sie ihrer Freundin schenken können...". Mit seiner hinreissenden jungen "Prinzessin" Lydia (Heike Makatsch) macht sich Kurt auf nach dem Norden. Zwar hat er die Schreibmaschine eingepackt, vergisst sie aber bei der Ankunft beinah im Zugsabteil. Ihm ist nicht ums Schreiben. Seine Nachdenklichkeit liegt wie ein steter Schatten über dem Liebesglück. Was wird aus Deutschland, will er überhaupt je dorthin zurückkehren? Unerwartet kommt Karlchen (Marcus Thomas), der Freund, zu Besuch, bringt Champagner und deutsche Zeitungen im Flugzeug mit. "Kurt Tucholsky angeklagt", melden Schlagzeilen. Soll er sich dem Druck der Nazis beugen, soll er widerrufen? Und Karlchen ist so blauäugig , an das Gute in dem neuen deutschen Nationalismus zu glauben! Da braust obendrein die Sängerin Billie (Jasmin Tabatabai) im Automobil heran. Zuviel Berlin! findet Kurt, - lasst uns Spass haben! meint Lydia, und sie haben Spass. Doch ein Flug zu viert in zwei Maschinen endet beinah mit einer Katastrophe. Streit zwischen den Männern, und Karlchen reist ab. Eine sinnliche Nacht zu dritt mit Billie und der Prinzessin vermag Kurts Düsterkeit und Verzweiflung nicht zu übertönen, und ein Abschied gibt dem andern die Hand.

Ulrich Noethen ("Comedian Harmonists") zeigt viel Feingefühl in der Darstellung des "späten" Tucholsky. Der scharfzüngige Zyniker und Lebemann schimmert nur noch in Spuren hervor. Das Bisschen Leidenschaft, das ihm blieb, wirkt gespielt und verkrampft. Heike Makatsch scheint sich (endlich!) des Etiketts des TV-Girlies ("Heikes Hausbesuche" auf VIVA, "BRAVO-TV" auf RTL 2) entledigt zu haben und beweist sich in der Rolle der "Prinzessin" als emotional starke Charakterdarstellerin. Wirklich schade ist allerdings, dass sie kein "Missingsch" (das ist Platt mal Berlinerisch) spricht...

Szenenbild und Fotografie tragen die unverwechselbare Handschrift von Pio Corradi ("Höhenfeuer", "Artur Rimbaud - une biographie"). Der Soundtrack-Score und Billie's Chansons, zum Teil bestehende Tucholsky-Lieder, wurden von der Contemporary-Klezmer-Band Kol Simcha komponiert bzw. neu arrangiert. Eine gelungene Mischung aus traditionellen Klezmer-Motiven und jazzigen Rhythmen unterstreicht treffend die melancholische Grundstimmung des Films.

Kollers subtil inszeniertes Wechselbad der Gefühle trifft ins Herz. Immer wieder wird die bis zum Kitsch gesteigerte, liebliche Schloss-, Wald- und Teich-Idylle mit bisweilen gewaltsamen Schnitten und Rückblenden durchkreuzt: Sanftes abtauchen in die rauschende, künstliche Buntheit, den lasziv prickelnden Klangteppich des Berliner Nachtlebens, doch auch stumm erschrockene, eindringliche Blicke auf den schleichend aufkommenden Nazi-Terror.

Dass wir die Dreier-Liebesszene durch plötzlich herbeigezauberte weisse Gardinen erspähen müssen, könnte als unnötige Prüderie abgetan werden, - lassen wir Tucholsky sprechen: "Vieles habe ich von dieser Stunde vergessen - aber eins weiss ich noch heute: wir liebten uns am meisten mit den Augen". Auch die Frage, ob der Film nicht überausgestattet sei, scheint berechtigt. So wird etwa aus zwei bescheidenen Zimmern in einem leicht verstaubten Schloss (so die Vorlage) ein museumsreifes Hochglanz-Szenario. Und mit Meister Rowohlt dürfte man sagen: "Schliesslich wollen die Leute einen Film haben, den sie mit ihrer Freundin sehen können!" Und sogleich kontern: "Wer hat denn heut noch eine Freundin?".

19.02.2021

3

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